Startseite › Foren › Kulturgut › Das musikalische Philosophicum › Welchen qualitativen Anspruch habt Ihr an ein Musikmagazin (z.B. den Rolling Stone)? › Re: Welchen qualitativen Anspruch habt Ihr an ein Musikmagazin (z.B. den Rolling Stone)?
Ich lese mehrere Musikzeitschriften und erwarte deshalb nicht, dass ein einziges Blatt mir alles bietet, was ich haben will.
Der erste und allgemeinste Anspruch ist der, dass Popmusik und Popkultur so ernst genommen werden wie traditionell die „Hochkultur“ ernst genommen wird. Als Musikfan steckt man außergewöhnlich viel Zeit in die Beschäftigung mit Popmusik oder Jazz und will bestätigt bekommen, dass das nicht unvernünftig ist. Musikzeitschriften sollten für Leute geschrieben werden, denen es um mehr geht als einen netten Zeitvertreib, und deshalb mehr bieten als „ein wenig Geplauder und Information“ und angenehme Unterhaltung. Die Autorinnen und Autoren sollten praktisch vorführen, dass das Schreiben über Popkultur Sorgfalt und Nachdenken verlangt und rechtfertigt – und dass Popmusik etwas ist, über das sich zu streiten lohnt. Von daher bin ich sehr für entschiedene Meinungen – sofern sie begründet werden! – , auch wenn ich deren Inhalt vielleicht ablehne. (Wenn man einen solchen Anspruch stellt, wird man Berichte aus dem Privatleben der Stars und „Homestories“ für Beiwerk halten, auf das auch verzichtet werden kann.)
Ähnlich allgemein ist der Anspruch, dass Popkulturzeitschriften Kritik enthalten sollen, so wie DD es am Freitag in der taz dargestellt hat (9. März, S. 15).
Diedrich DiederichsenEr (der Kritiker) fällt in der Tat dieselben Geschmacksurteile, die alle anderen auch fällen, mit dem Unterschied, dass er sie begründet. Der transparente Einsatz seiner Kriterien entscheidet erstens darüber, was für eine Sorte Kunstwerk er generell für wünschenswert hält und zweitens ob das fragliche konkrete Kunstwerk diesen Kriterien entspricht. Abschließend kann man mit ihm über beide Behauptungen und die grundsätzliche Angemessenheit der Kriterien diskutieren – diese Diskussion führt man auch generell im Hinblick darauf, was man über einzelne Kunstwerke hinaus für politisch-kulturell wünschenswert hält.
Dass dabei unterschiedliche und teils gegensätzliche Vorstellungen und Werte aufeinander prallen, versteht sich von selbst.
Laut Diederichsen soll die Kritik die der Musik „impliziten Ideen von der Welt aufdecken“, sie also durch Interpretation und Deutung diskutierbar machen (wobei zu den Klängen immer die Attitüde hinzukommt, mit der sie vorgetragen werden, die Posen, wie DD sagt). Das gefällt mir – man kann den Ideen noch Haltungen und Gefühlswerte hinzufügen. (Ich lese einfach gerne Deutungen wie die von Joachim Hentschel im aktuellen RS, wo er schreibt, die Songs von Air handelten „eigentlich von der Angst vor dem Erwachsenwerden“.) Ich mag es, wenn eine allgemeine Charakterisierung einer Band oder einer Platte versucht wird, wenn man so etwas wie ihr „Prinzip“ behauptet.
Das gilt natürlich ebenso für andere Künste. Einen Artikel zu bringen wie den von Theweleit über Pasolini (Accatone einerseits, den Ödipus-Film und das Evangelium nach Matthäus andererseits) in der aktuellen SPEX, das finde ich auch super.
Der Punkt „begründete Urteile“ ist mir besonders wichtig. Wird aus Anlass einer Veröffentlichung über einen Künstler geschrieben, dann freue ich mich, wenn der Autor auch darlegt, was er an dem Werk schätzt oder nicht schätzt. Das sollte nicht auf die Plattenkritiken beschränkt sein (die ja vielleicht jemand anderes geschrieben hat).
Sonic JuiceSoll Pop-Journalismus innovativ und überraschend sein oder doch eher servil leserfreundlich („Fan-Vollbedienung“) oder einfach nur: informiert und informativ (schwer genug!)?
Servil sollte es natürlich nicht zugehen, weder den Lesern noch den Anzeigenkunden gegenüber. Wenn ein Kritiker etwas für schlecht hält, dann soll er es sagen (und begründen!), auch wenn er mit Protestbriefen oder Verstimmung rechnen muss. Es schadet nichts, sich gelegentlich über die Fehlurteile „arroganter Kritiker“ aufzuregen.
Auf Innovation und Überraschung lege ich wohl weniger Wert als auf Kenntnis- und Gedankenreichtum.
Sonic JuiceWollt Ihr hauptsächlich Artikel über Eure (potentiellen) Lieblingsbands mit gelungenen Konsumempfehlungen lesen oder geht es Euch um eine kulturelle Gesamtschau des Phänomens Popkultur, in dem Artikel über Kraftwerk, Tote Hosen, Stones, Sido, Falco, Stockhausen, Entenhausen, Pasolini und die Documenta erstmal gleich interessant sind, wenn sie eben gut geschrieben sind? Lieber ein brillanter Artikel über Tokyo Hotel als ein passabler über David Bowie (hier bitte Lieblingsmusiker einsetzen)?
Die Redaktion sollte grundsätzlich unterstellen, dass sich die Leserinnen und Leser auch für Kunst allgemein (Film, Literatur, Bildende Kunst…) sowie für „Politik und Gesellschaft“ interessieren. Der Schwerpunkt sollte meiner Meinung nach aber bei der Popmusik liegen.
Beim Rückblick auf die Rock’n’Roll-Geschichte lege ich schon Wert darauf, dass mehrheitlich (oder mindestens: häufig) über die richtigen Bands und Künstler geschrieben wird. Wenn der RS Texte zu Roxy Music und The Stooges bringt, dann finde ich das gut; brächte er stattdessen Artikel über Jethro Tull und Wishbone Ash, beispielsweise, dann wäre das schlecht – ich bin da parteiisch. (The Stooges sind die Paten des Punk und Roxy Music stehen für Pop als Kunst, sind also in meinem Universum relevant; Tull und W. Ash sind Relikte einer überwundenen Epoche, Bands für Leute, die in den frühen und mittleren 70ern jung waren und in meinem Universum nicht relevant. Mit Zeitschriften, die das ganz anders sehen, werde ich langfristig nicht glücklich werden.)
Um das gleich wieder einzuschränken: Ich lasse mir auch etwas über Leute erzählen, deren Platten mich nicht interessieren, wenn ein Thema von allgemeinem Interesse behandelt wird. Das Clapton-Special zum Beispiel habe ich gerne gelesen, weil es eine Drogenkarriere dargestellt hat und ich „Rock’n’Roll und Drogen“ für ein wichtiges Thema halte (es gibt viele andere). Jugendkulturen, Fankulturen sind z.B. immer interessant (aktuelle wie vergangene): Wovon lassen (oder ließen) „die Kids“ sich ansprechen, wie praktizieren sie ihr Fansein? „Brilliante Artikel“ über Tokio Hotel etc. sind mir daher willkommen.
Dass ein Artikel gut geschrieben ist, freut mich zwar, reicht mir aber nicht (und ist bei Themen, die mich sehr stark interessieren, nicht zwingend notwendig). Den „Fall Falco“ zum Beispiel fand ich unergiebig für mich als Nicht-Fan. Der Text war gut geschrieben, hat mich aber nicht davon überzeugt, dass ein Falco-Special notwendig war. Der Mann hat ein bißchen Skandal gemacht; das ist nichts Besonderes, sondern ein normaler Mechanismus der Kulturindustrie. Wenn es nicht um potentielle Lieblingskünstler geht, sollte aber deutlich werden, was an dem Fall von allgemeinem Interesse ist. (Ich lese erst einmal (fast) alles; was ich dann uninteressant finde, vergesse ich gleich wieder.)
observerMit Interesse und Begeisterung habe ich schon immer Artikel gelesen, die mir mehr über die Welt des Künstlers erzählt haben, als dass sie einen historischen Abriss gegeben haben. … Da spielt es oft auch nicht mal die große Rolle, ob ich schon vorher ein Interesse für diese Person hatte oder nicht. Da ist es dann wichtig, ob mir der Autor überzeugend etwas zu erzählen hat. Viel diskutiert wurde ja z.B. der Joe Meek-Artikel, wo von einigen bemängelt wurde, dass der Fokus zu stark auf den Aspekt seiner Homosexualität gelegt wurde. Aber war es nicht grade auch dieser individuelle Aufhänger, der dieses Porträt dann auch lebendig machte? Will sagen, ein guter, fesselnder Artikel darf gern auch individuell und streitbar sein und sollte nicht so konzipiert werden, als wäre es der einzige, der jemals über den Künstler erscheinen wird.
Dem stimme ich zu, im allgemeinen wie im einzelnen. Der Text sollte einen interessanten Aspekt (oder mehrere Aspekte) in den Fokus rücken; er muss nicht als Überblick oder Einführung konzipiert sein oder als der einzige Text, der über diesen Künstler gelesen wird. Er sollte im besten Fall zu denken geben.
Herr RossiWas das Internet nicht leisten kann, sind … ausführlichere Analysen und Hintergrundberichte. Die Debatte um den „New Weird Folk“ wäre so ein Beispiel. Mich würde es auch interessieren, neue Genres wie Grime erklärt zu bekommen. Sehr gelungen fand ich vor einiger Zeit einen Artikel, wie das Phänomen Tokio Hotel von den Fans geschaffen wird, das war mal ein interessanter Ansatz, der die Fans nicht nur als willenlose Objekte der Marketingstrategen betrachtet. Überhaupt sollte der Fokus nicht immer nur auf die Bands und Künstler gerichtet sein, ich würde z.B. gerne mehr über Produzenten lesen. Oder die Songwriter, die den Mainstream beliefern, nicht selten mit interessanten Arbeiten.
Das kann ich alles unterschreiben.
Ich interessiere mich unter anderem für die Verbindungen zwischen Bands (die dürfen auch gerne übertrieben dargestellt werden) und für das (ungeschriebene) „Manifest“ einer Szene: Was ist den Beteiligten wichtig – musikalisch, kulturell, politisch? Wovon grenzen sie sich ab? Nitsuh Abebes Indiepop-Feature für Pitchfork fand ich da zum Beispiel sehr gelungen.
Was noch? Ich will Interviews mit interessanten Leuten lesen, die etwas zu sagen haben über die Musik oder die Welt. Gute Beispiele sind das SPEX-Interview mit den Pet Shop Boys im letzten Jahr oder aktuell das mit Jochen Distelmeyer. Auch die Musikjournalisten selbst sollten uns ihre Gedanken über die Popkultur mitteilen.
Außerdem will ich Infos über Neuerscheinungen und viele Plattenbesprechungen. Dazu will ich Tipps, was man sich anhören könnte. Ich mag z.B. kommentierte Songlisten (es müssen keine Singles sein). Und ich will Heft-CDs mit Hörproben. Im Netz findet man nur dann etwas, wenn man schon weiß, was man sucht; und für Blogs habe ich keine Zeit.
The bottom line: Musikzeitschriften sollen die Musik ernstnehmen und mir Anregungen geben, Einsichten vermitteln und dabei helfen, gute, hörenswerte Platten zu finden und zu erkennen.
Sonic JuiceNehmt ihr eine Bürgerkriegs-Reportage im Rolling Stone genauso ernst wie eine solche z.B. im Spiegel oder in der ZEIT?
Eher nehme ich die Artikel im SPIEGEL nicht ernst als die im ROLLING STONE…
Herr Rossi hat aber auch recht:
Herr RossiIch finde es sehr bemüht, eine Musikzeitschrift mit solchen Themen „relevant“ machen zu wollen. Die Musik und das Schreiben über Musik sollen relevant sein.
--
To Hell with Poverty