Re: Nine Inch Nails

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masureneagle

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Die Nine Inch Nails waren zu Gast in der Porsche-Arena
Hymnen der Selbstzerstörung

Geschicktes Timing geht anders. Kürzlich zeigten Nine Inch Nails auf einer D V D ihrer US-Tour eine Vollbedienung zwischen vortrefflich schlechtlaunigem Elektronik-Rock und einer brillanten Licht- und Video-Show. So eine, die nicht kaschiert, sondern unterstützt.

Davon sehen 3500 vorwiegend dunkel gekleidete Menschen in der ungeselligen Porsche-Arena gar nichts Eigenbrötler Trent Reznor und seine Nine Inch Nails tanzen den adrett ausgeleuchteten Minimai-Tango mit ein paar Strahlern und Lichtem, die aussehen wie Wohnzimmerhängelampen. Dafür aber gibt’s viel Nebel und noch mehr visionären Industrial Rock. Reznor wiederum, stilsicherer Pionier des selbst losgetretenen Genres, tanzt am Abgrund.

Drohte er einst im Cocktail aus Drogen und Depression zu ersaufen, scheint er sichtlich aus dem Gröbsten raus; die böse Energie und die Melodien sind trotz der Fitness geblieben. „Nothing can stop me now, I don’t care anymore“, droht er im herrlichen „Piggy“. Auch die nächste Sau lässt nicht lange auf sich warten: „March Of The Pigs“ – ein hysterischer Wutausbruch, zu dem man Revolutionen anzetteln möchte.

Am Montagabend gibt’s Hymnen der Selbstzerstörung und Melodien, die sich erst dezent andeuten und sich dann umso flächiger ausbreiten. Mittendrin steht Trent Reznor: Mit glasklarer Stimme und verführerischem Timbre lässt er selbst die gröbste Tristesse irgendwie sexy erscheinen. „I want to fuck you like an animal“, raunzt er, und es klingt würdevoll, fast nach Liebe. Manchmal, wenn’s der Dramaturgie dient, schreit er auch nur. „Wish“, das erste Grammy-ausgezeichnete Lied, in dem das Wörtchen „Fistfuck“ zu Ehren kam, gipfelt in einer nihilistischen Lärmorgie – bestens umgesetzt von seiner gecasteten Supergroup. Gitarrist Aaron North von The Icarus Line wirkt wie Reznor Anfang der 90er: theatralisch und unberechenbar. Am Bass: Jeordie White, früher bei Reznor-Protege Marilyn Manson. Josh Freese wiederum hilft oft schlimmen Gruppen (The Offspring) oder guten Leuten (Mike Ness) am Schlagzeug. Alessandro Cortini sorgt für zerfahrene Keyboardsounds.

Effekte und Kleinkrach. Neue Stücke stellen NIN auch vor: „Survivalism“ – verhältnismäßig mittelprächtig. „The Beginning Of The End“ wiederum zeigt Reznors Klasse: Es sind die Abgründe, die Dinge, die er nur andeutet. „Hurt“ fehlt da natürlich auch nicht, schon vor Johnny Cashs Version ein Klassiker, mittlerweile ein Jahrhundertlied. Gänsehaut, Kleinhysterie und dergleichen serienmäßig.

Während die Echo-Verleihung am Vorabend mehr als nur skizzierte, was derzeit schief läuft im Popgeschäft, zeigen Nine Inch Nails nur 25 Stunden später, weshalb das Musikbusiness mit all seiner Seelenlosigkeit bitte doch nicht sofort explodieren soll. Aber Reznor würde auch das verschmerzen. Der Mann hat schon Schlimmeres überstanden.

Stuttgarter Nachrichten 28. März 2007 von Michael Setzer

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