Re: Morrissey Deutschland-Tour 12/2006

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masureneagle

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„Ist es zu glauben? Hier bin ich!“: Steven Patrick Morrissey gibt ein grandioses Konzert in München

Süddeutsche Zeitung Freitag den 15. Dezember 2006 von OLIVER FUCHS

Über die Schönheit im Schweinestall

Es lohnt sich an diesem Abend von der ersten Sekunde an, auf Details zu achten. In einem eierlikörfarbenen Hemd mit schmaler Krawatte in Taubenblau betritt der Sänger die Bühne. Die Bügelfalte? Messerscharf. Die Tolle? Formvollendet. Die Exposition ist ein bisschen so wie in den amerikanischen Filmen, wo anfangs eine Vorortidylle mit Hund und Zweitwagen gezeigt wird und man schon ahnt, dass sich bald Abgründe auftun. Auch hier, bei Steven Patrick Morrisseys Konzert in der Münchner Zenith-Halle, einem an Scheußlichkeit nicht zu überbietenden aufgelassenen Fabrikbau, bröckelt die Fassade schnell. Am Ende steht der Gentleman des Pop halb nackt da und lässt sich gehen.

Das geht so: Bei Lied Nummer 3, „The Youngest Was The Most Loved“, rutscht das Hemd aus der Hose, bei Lied Nummer 5, „Disappointed“, lockert er die Krawatte, um sie sich dann, bei Lied Nummer 8, „William, It Was Really Nothing“, vom Hals zu reißen. Bei Lied Nummer 9, „Irish Blood, English Heart“, öffnet er den obersten Hemdknopf und offenbart ein nach Hafenkneipe aussehendes Amulett, Brusthaar quillt. Bei Lied Nummer 15, „Let Me Kiss You“, geschieht das Unfassbare: Der Brite schält sich aus seinem Hemd. Da steht er, mit einer kleinen Wampe. Schluck! Dann Erleichterung: Morrissey ist wahrscheinlich der einzige 47-Jährige, dem ein kleiner Bauch ganz gut steht.

Wie konnte es dazu kommen? Lange war Morrissey als Snob verschrien, als Hüter eines hermetischen Kunst-Pop. Mit seiner Band The Smiths schuf er zwischen 1982 und 1987 ein Werk, das Menschenhass und Weltekel durchdeklinierte und im studentischen Milieu Anklang fand. Morrissey, der blasse, sich hinter Oscar-Wilde-Büchern verschanzende Griesgram sprach jenen aus der Seele, die die achtziger Jahre zu Recht als Zumutung empfanden. Was Weltverneinung angeht, glich sein Schaffen dem von Thomas Bernhard. Dasselbe Kreisen um die immergleichen Motive, derselbe hämmernde Wiederholungs-Furor. Nur Eingeweihte bemerkten jeweils Variationen.

Doch je länger die Smiths-Historie zurück lag und je mehr Soloalben er veröffentlichte, desto mehr trat der Sänger aus seiner eigenen Kunstwelt heraus und ins Leben. Das Album „You Are The Quarry“ von 2004 war schon sehr beschwingt. Im Frühjahr dieses Jahres legte er noch mal nach und verblüffte Freunde wie Feinde mit dem überschwänglichen, ja bacchantischen „Ringleader Of The Tormentors“.

Im Münchner Konzert nun lässt sich Morrisseys Evolution im Zeitraffer beobachten. Mit jedem Knopf, den er lockert, wird er weltzugewandter. Vom Apollinischen zum Dionysischen in weniger als zwei Stunden, das ist toll anzuschauen. Die lebensprallen Lieder des neuen Albums sind auch die besten Lieder des Konzerts. In „Dear God Please Help Me“ singt er von der Entdeckung seiner Sexualität, und zwar so anmutig, als wäre er dem Tölzer Knabenchor beigetreten. Liebe jedoch, das versichert er in einer seiner melodramatischen und hochamüsanten Moderation, Liebe habe er noch nicht gefunden: „Alles was ich habe, sind meine kleinen Lieder“. Oh, wie haben wir gelacht in unserer kleinen quasidepressiven Konzertbesuchergruppe! Auf „Ringleader Of The Tormentors“ fährt er Gongs und Streicherteppiche und Donnergrollen auf. Die Songs werden von den Arrangements und Special Effects so weit aufgeblasen, bis sie wie Salzburger Nockerln wieder in sich zusammenfallen. Im Konzert ist der Bombast schwer reproduzierbar, auch wenn die fabelhafte Band ihr Möglichstes tut. Morrisseys notorische Melancholie wird live abgemildert durch Ironie und Grandezza. Die hat er sich offenbar in Rom abgeschaut, wo er neuerdings wohnt. Manchmal tänzelt er sogar wie ein vergnügter Pizzabäcker.

„Hallo Opernfreunde“, ruft Morrissey einmal ins Publikum und erntet entgeisterte Blicke, worauf er hinzufügt: „Natürlich ist es Oper. Das ist es immer gewesen.“ Wagner-Kenner mögen das anders sehen, aber was sich nicht bestreiten lässt, ist, dass das Konzert streckenweise eine sehr lustige Komische Oper ist, wenn etwa weihevoll reifengroße Schellen angeschlagen werden oder der Schlagzeuger in „Muppet Show“-Manier auf einen Gong eindrischt.

Herrlich überspannt ist das alles, Pomp und Gloria in bescheidener Zeit. „Would you believe? Hello!“ So begrüßte Morrissey seine Fans zu Beginn des Konzerts, und zwar mit jener Handbewegung, mit der der zum Papst gewählte Ratzinger einst in Rom vor die Schäfchen trat: „Ist es zu glauben? Hier bin ich!“ Ein schöneres Entree haben wir noch nie gesehen. „Life Is Pig Store“, sang er schließlich traurig, und seine Fans wiegten traurig die Köpfe. Klar, Mann, das Leben ist ein Schweinestall. Aber was für ein sehr, sehr schönes Konzert in diesem Stall, Mister Morrissey! Gott zum Gruße!

Morrissey tritt heute abend in Düsseldorf auf, am Sonntag in Berlin und am Montag in Hamburg.

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