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tina toledoBerlin zumindest war am Abend angeblich vollständig ausverkauft.
Wohl kaum. Da hätten gut und gerne noch mal 1000 Leute reingepasst in die Arena.
Hier die Kritik von Jens Balzer aus der Berliner Zeitung von heute:
Berliner ZeitungIch und Pasolini, die alte Drag Queen
Morrissey spielte in der Arena
Jens BalzerAuch von dieser Stelle erst einmal herzlichen Glückwunsch: Bei einer von dem britischen Fernsehsender BBC veranstalteten Umfrage nach den bedeutendsten noch lebenden Künstlern des Vereinigten Königreichs hat Steven Patrick Morrissey am Wochenende einen triumphalen zweiten Platz belegt. Zwar wurde er von dem allseits beliebten Biologen und Dokumentarfilmer David Attenborough geschlagen („Spiele des Lebens“, „Das geheime Leben der Pflanzen“); doch vor minder begabten und bedeutsamen Musikern wie Paul McCartney (Platz 3) und David Bowie (Platz 4) konnte er einen verdienten Vorsprung erringen.
Am Sonntag hat Morrissey in der Berliner Arena ein fabelhaftes Konzert gespielt; vor dem Beginn seines Auftritts zeigte er in einer Reihe von Videofilmen, wen er selbst für die bedeutendsten lebenden und toten Künstler hält. Zum Beispiel die alten Glamrocker New York Dolls, die in einem Auftritt in der deutschen Musiksendung „Musikladen“ zu sehen waren (burschikos anmoderiert von dem jungen Mike Leckebusch), oder die römische Schlagersängerin Gigliola Cinquetti, die mit ihrem Lied „Si“ beim Grand Prix d’Eurovision de la Chanson 1974 hinter Abba („Waterloo“) den zweiten Platz belegte. Aber auch der New Yorker Transvestit John Epperson war zu betrachten: In seiner berühmtesten Rolle als Drag Queen Lypsinka sang er in einem langen roten Kleid auf einer Musical-Bühne betrunken ein Weihnachtslied.
Seine eigenen Lieder sang Morrissey alsdann unter einem großen Porträt des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini, der unter einem Hügel, auf dem sich ein Kreuz befand, streng auf den Künstler und sein Publikum hinunterblickte; es handelte sich um eine Fotografie, die bei den Dreharbeiten zu Pasolinis Film „Das Evangelium nach Matthäi“ entstanden war. Wie Pasolini schon in den Sechzigerjahren, beklagt Morrissey in der Gegenwart den unaufhörlichen Verfall der Kultur, unter anderem kritisierte er zu Beginn seines Konzerts, dass im Radio keine gute Musik mehr gespielt wird – in dem allerdings auch schon 20 Jahre alten „Panic“-Stück von The Smiths mit dem an Tresen und in Diskotheken bis heute gern intonierten Refrain „Hang the DJ! Hang the DJ!“ Anschließend spielte Morrissey sich vor einem geradezu religiös unterwürfigen Publikum einmal durch sein gesamtes Werk, von alten Smiths-Klassikern wie „Girlfriend In A Coma“ über frühe Solostücke wie „Everyday Is Like Sunday“ bis zum fast komplett vorgetragenen aktuellen Album „Ringleader of the Tormentors“; inklusive einer Reihe selten gehörter B-Seiten wie „Ganglord“ oder „I’ve Changed My Plea To Guilty“.
Am Beginn des Konzerts trug Morrissey ein schwarzes Hemd mit einem weißen Schlips, an dem er sich bei den Zeilen „Hang the DJ“ immer wieder selbststrangulierend in die Luft zu ziehen versuchte; später erschien er in einem weißen und einem blauen Hemd und zwischendurch auch einmal mit nacktem Oberkörper. Seine Musiker hingegen trugen durchweg dieselben schwarzen Hosen und weißen Hemden; weil sie sich um die Hälse auch noch schwarze Fliegen gebunden hatten, sahen sie wie eine Gruppe musizierender Eisdielen-Kellner aus einem britischen Seebad aus.Wie an den raspelkurz geschorenen Haaren und dem bulligen Auftreten zu erkennen war, handelte es sich allerdings wohl um Eisdielen-Kellner, die in ihrer Freizeit gerne auch mal der beliebten britischen Freizeitbeschäftigung des Hooliganismus frönen – was besonders gut zur Geltung gelangte, als knapp vor Ende des Hauptteils alle miteinander „National Front Disco“ intonierten, jenes Stück, wegen dem Morrissey 1992 nach eigener Einschätzung mit Schimpf und Schande aus Großbritannien verjagt worden war – tatsä chlich hatten ihn nur einige Musikjournalisten gefragt, ob man, wie von ihm behauptet, die Zeile „England to the English“ wirklich als eindeutig antifaschistisch auffassen konnte.
Seither lebte er in Hollywood im ehemaligen Haus von Clark Gable und verbrachte seine Freizeit nach eigenen Angaben vor allem mit sexuell aufgeschlossenen Mitgliedern mexikanischer Motorradgangs; inzwischen ist er nach Rom gezogen und hat dort nicht nur Gigliola Cinquetti und Pier Paolo Pasolini entdeckt, sondern auch die Möglichkeiten der eigenen Physiognomie: „zwischen meinen Beinen / trage ich Fässchen mit Sprengstoff“, singt er in dem Stück „Dear God, Please Help Me“. Aus der berühmtesten beleidigten Leberwurst der Welt ist ein sexuell potenter Charmeur geworden: „Ihr Berliner lebt in einer wunderbaren Stadt!“, schmeichelte er etwa seinem Publikum: „Sie ist fast so schön wie zum Beispiel Warschau“, woraufhin er von einer in den vorderen Reihen zusammengeballten polnischen Morrissey-Fan-Gruppe einen rotweißen „Polska“-Schal zugeworfen bekam. Von einem Buch, das ihm ebenfalls als Geschenk auf die Bühne geworfen wurde, wurde er allerdings so unglücklich getroffen, dass er kurz taumelte und beinahe das Gleichgewicht verlor. „Oh, ein Buch. Ob das teuer war? Es heißt ,Let me kiss you‘.“
„Nach dem Konzert kann man mich in der Lobby mieten“, verabschiedete Morrissey sich am Schluss von seinen Fans, „ich bin allerdings ein ausgesprochen kostspieliges date.“ Am Morrissey-Merchandising-Stand konnte man neben praktischen Morrissey-Schlipshaltern auch einen exklusiven Morrissey-Money-Clip kaufen. Damit kann man Geldscheine zusammenklippen und erspart sich das Portemonnaie, das – vor allem, wenn es prall gefüllt ist – in knapp getragenen Maßanzugshosen unschön aufzutragen pflegt.
Berliner Zeitung, 19.12.2006
PS: der Moderator im Musikladen war natürlich die Knalltüte Manfred Sexauer, nicht Leckebusch. Der führte nur Regie.
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