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Die Welt:
Das fängt ja prächtig an. Der Pianist legt eine kakophonische Etüde hin. Im Bühnenbild erscheint ein überlebensgroßer Pier Paolo Pasolini, und dort bleibt er auch als Ehrengast des Abends. Es ist das berühmte Bild, das Pasolini vor dem Kreuzigungshügel zeigt.
Davor singt Morrissey nach langem Fehlen wieder davon, DJs aufzuhängen, Diskotheken anzuzünden, in der Schlacht zu sterben, über Vatermord und dann die hinreißende Hymne „You Have Killed Me“, die dem Sänger schlagartig bewusst macht: „Pasolini, das bin ich!“ Stolz deutet Morrissey auf das nun rot bestrahlte Foto. Dass dem Veteran der achtziger Jahre Demut und Bescheidenheit nie eigen waren, darf jetzt wieder im Konzert als großes Glück gefeiert werden.
Denn so abwegig erscheint das gar nicht: Bereits Pasolini hatte sich Zeit seines kurzen Lebens bitter über kulturelle Nivellierung, Stillstand und Konformität beklagt. Sein „Vita Violenta“ liest sich heute wie die Vorlage für manchen Song von Morrissey. Für großartigen Ärger und immense Wertschätzung sorgt der inzwischen graue Misanthrop noch immer. Spielte sich der junge Steven Patrick Morrissey als Wiedergänger Oscar Wildes auf und ließ sich mit Lilien bombardieren, schüttelt er nun volksverbunden Hände von der Bühne. Ungeachtet der behäbigeren Würde eines 47jährigen.
Zuletzt zeigt er sich den Deutschen im vergangenen Jahrhundert. Nun beginnt er eine kleinere Tournee in der Jahrhunderthalle Frankfurt-Höchst. Während die Farbenwerke draußen ihre Dämpfe in den ungemütlichen Dezemberhimmel schicken, tröstet Morrissey über die ruinierte Welt hinweg, indem er unablässig diese Welt besingt. Er sollte ohnehin nur deprimierende Industriegebiete oder viktorianische Theater mit seiner Musik beehren. Es ist schon ein kleines Wunder, dass er wieder auftaucht, wenn es kälter wird. Nicht meteorologisch, sondern allgemein klimatisch. Seine Band The Smiths begleitete hervorragend die Flucht nach Innen vor den Thatchers, Reagans oder Kohls.
Die mittleren und späteren Neunziger verdämmerte der Dandy überdrüssig über wenig inspirierten Liedern und in Hollywood, wo er im Haus Clark Gables hauste und sich sicher auch so fühlte. Seit zwei Jahren musiziert er wieder. Und so trifft der unbestritten führende Lamentierer zeitlich auf die jungen, ihn verehrenden Klagesänger, die wieder von Großbritannien aus die Stadien bevölkern. Bands, die Muse, Keane oder Coldplay heißen. Und als stünden sie verwirrt auf Riesenschultern, wird von ihnen die gefühlte Überforderung bejammert, die ein Dasein mit sich bringt, wenn es sehr lange lauwarm war.
Die Klagelieder Morrisseys werden gespeist aus eigenen Erfahrungen als Industriearbeiterkind in Manchester, irisch-katholischer Erziehung, Punk und einem heute ungesund wirkenden Appetit auf abseitige Künste. Was sich nicht nur in den Liedern niederschlägt. Sondern auch in der unbestimmten Furcht, der Mann könnte sein Tremolieren unterbrechen, von der Bühne steigen und jemanden, der nur blöd sein Bier trinkt, aus der Halle prügeln. Einer dieser blassen Epigonen, Murray Lightburn von den Dears aus Montreal, macht das Dilemma gerade deutlich. Sein „Whites Only Party“ klingt nicht nur wie Morrissey vor 15 Jahren. Es erinnert an das düsterste Kapitel einer schwierigen Rezeptionsgeschichte. 1992 schmetterte das Original seinem rechts-elitären Weltanschauungen nicht abgeneigten Teil des Publi?kums ein „England den Engländern“ entgegen. Statt sich aller?dings zu schämen, spendeten die Angesprochenen Beifall. Linke und Asiaten gingen auf Distanz und Morrissey nach Übersee. Dass die Geschichte ausgestanden ist, auch ohne schonungslose Aufklärung und Reue und was sonst noch alles im Gewerbe üblich ist, beweist der böse Onkel jetzt in Frankfurt. Durch eine beherzte Aufführung des Trotzstücks „Irish Blood, English Heart“.
Vor allem aber durch den unbeirrten Vortrag des anstößigen „National Front Disco“, bei dem sich die Musiker der Band um ihren Schlagzeuger zusammenrotten und in engen Hemden und gespannten Hosenträgern sowieso wie depressive Skinheads wirken. Darum hat sich Morrissey verdient gemacht: Er hat subkulturelle und soziale Randgruppen bei ihrem Marsch begleitet in die Mitte.Zeichenhaft lässt sich der einstige Schwulenaktivist, der angekommene Migrant oder der brillentragende Außenseiter immer noch erkennen. Das wird ausgiebig bei Morrissey gefeiert. Für sie lobt er seinen nie vergangenen Zukunftsekel. „Every Day’s Like Sunday“ sehnte sich schon 1988 förmlich nach dem Armageddon des Atomkriegs. Häufig geht es um Verzicht auf Fortpflanzung. Auch jüngere Lieder kommen selten ohne einen Hinweis auf den Brechreiz aus, der Morrissey befällt, wenn er durchs Leben und die Gegenwart flaniert.
Sein Publikum ist hingerissen. Es zerteilt die Hemden brüderlich, derer sich Morrissey entledigt und anstelle seines Leibs hinunterwirft. Nachdem die Utopie zersungen wurde, und zwar gründlich, wird die Nostalgie gezaust. Dies freut und amüsiert ihn. „Die Vergangenheit“, ruft Morrissey, „ist ein grandioser Ort. Aber ich möchte da nicht leben.“ „Och!“ „Ihr etwa?“ Eifriges, begeistertes Geschrei. „Vergesst es.“
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Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und den Mund halten.