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Legal, illegal, ins Regal
Die Beatles werden nicht allein begehrt: Bootlegs, heimliche Musik-Mitschnitte, sind verfügbarer denn je
von Michael PilzDer Barde auf den Bildern zeigt sich stark geschminkt. Zu weißem Clownsgesicht und schwarzem Lidstrich trug Bob Dylan 1975 einen Hut, an den er Federn, Kräuter, Blumen, Wurzelwerk und Laub zu stecken pflegte.
Er war wieder unterwegs, und alles sollte anders sein. Nicht mehr jeden Abend auf den Bühnen irgendwelcher Städte pflichtgemäß die selben Folksongs auf die gleiche Weise singen. Keine Werbereise für seine jeweils jüngste Platte. Eine losgelöste „Rolling Thunder Revue“ hatte Dylan im Sinn: Eine Gesamtkunstschau aus Rock, Theater, Lesung, Gottesdienst und Volksfest wollte er durch die Städte tragen. Im New Yorker Village las er seine Mannschaft in den Clubs und Straßen auf, verfrachtete sie in drei Busse und fuhr los. Bob Dylan kam bis Montreal.
Dort war einer der vormals reichsten Popstars Pleite. Denn die Plattenfirma hatte in der Reise keinen wirtschaftlichen Sinn entdecken können. Glücklich waren nur die Menschen, die das live erleben durften oder später schwarzgepressten Live-Mitschnitten davon lauschten. Sogenannten Bootlegs.
Bootleg, wörtlich: Stiefelschaft, stand in den zwanziger Jahren in Amerika für schwarzgebrannten oder illegal beschafften Alkohol. Rund 50 Jahre später barg der sinnbildliche Stiefelschaft die Mikrofone für die ersten Rock ’n’ Roll-Bootlegs. Auch von Bob Dylans „Rolling Thunder Revue“ gab es etliche. Der Kult um diese seltenen Bootlegs hat die Plattenfirma nun bewogen, doch noch von der eigenmächtigen Konzertreise zu profitieren. „Bob Dylan Live 1975 – The Bootleg Series Vol. 5“ (Columbia) steht heute legal im Laden. Der Erlös geht an die Industrie, ein wenig fließt dem heute leider ungeschminkten Sänger zu.
Woran erinnert das? An zwei Erscheinungen der Popmusik, die damals auch durch Dylans Eigensinn begründet wurden. Die nur etwas aus dem Blick geraten sind, weil sich bislang damit kaum Geld verdienen ließ: Eine Tournee als zeitgemäßer, volkstümlicher Wanderzirkus. Und das Bootleg-Album als Verlängerung der magischen Momente in die Ewigkeit.
Als Platte muss man heute ein Produkt verstehen, das in mühevoller, langwieriger Misch- und Filterarbeit aus Versatzstücken gefertigt worden ist. Eine Tournee bedeutet – nachdem Konzerte zwischenzeitlich bloß Zuschussgeschäfte waren, Promotionsmöglichkeit für Alben – mittlerweile wieder eine vertragsgerechte, einträchtige Butterfahrt des Künstlers. Oder einen Stadionauftritt, der dem Künstler in der Rezession durch überhöhte Kartenpreise seinen Lebensstandard sichert.
Alles hat zur Folge, dass der Handel mit den echten Bootlegs an der Basis wieder boomt. Dem Internet sei Dank. Und weil die Plattenindustrie genügend Ärger mit ihren CD-Produktpiraten hat, teilt sie hier matt das alte Sponti-Motto: Legal, illegal, scheißegal. Zehn Jahre ist es her, das ein gescheiter Künstler einen Weg fand, um von Bootlegs mehr zu haben als entzückte Fans. Frank Zappa sammelte die schönsten Aufnahmen, veröffentlichte sie unter dem Motto „Beat The Boots“ in liebevoller Edition und unterlief die hohen Schwarzmarktpreise. Die Columbia, Dylans Plattenfirma, ließ danach die ersten „Bootleg Series“ pressen. Pearl Jam, als vergleichbar lückenlos dokumentierte Rockband, kam den Bootleggern zuletzt sogar zuvor mit offiziellen Doppelalben sämtlicher Tournee-Konzerte.
Daraus hat das heftig kriselnde Musikgeschäft gelernt: Mit Bootlegs lässt sich kostengünstig Geld verdienen. So ist auch der neueste Sensationsfund zu verstehen, als Beamte in den Niederlanden Tonbänder der Beatles sicherstellten. Diese Bänder der „Get Back“-Aufnahmen waren 1969 aus den Studios verschwunden und zum Schwarzpressen verwendet worden. Mit „Get Back“ hatten die Beatles alles anders machen wollen, daher das seit 30 Jahren an den Bootlegs ungebrochene Interesse. Nun verspricht die Plattenfirma Apple noch einmal ein neues Beatles-Album. Die Archive hatten sich geleert.
Doch auch die selbstgebrannten Livemitschnitte sind im Internet, dem virtuellen Trödelmarkt, verfügbarer als je zuvor. Sie werden selbst nach Art des Kettenbriefs verteilt. Bezahlt wird in der Währung adäquater Sammlerstücke. Dylan darf noch vor den Beatles und den Grateful Dead, Frank Zappa oder Pearl Jam als der Herr der Bootlegs gelten. Als er seine „Rolling Thunder Revue“ unternahm, hat niemand seine Gästen auf verdächtige Geräte, Mikrofone und Kassetten kontrolliert.
„In der Musikwelt bist du ein Niemand, solange dich keiner genügend liebt, um deine Bootlegs zu begehren“, schreibt die „New York Times“. Sie hat ja Recht: Die Bootlegger sind Fans. Die Hippies von The Grateful Dead begründeten den einstmals guten Ruf darauf, dass sie ihr Publikum um Bootlegs baten wie die Counting Crows es heute tun. Und seit Jahrzehnten ist Bob Dylan rastlos unterwegs auf seiner „Never Ending Tour“. Diese wirkliche Tournee gleicht einer Pilgerreise oder den Auftritten von liebenswerten Scharlatanen, die vom Planwagen mit Borkenwasser oder Schlangenschwänzen Handel trieben. Hauptsache, die Menschen wurden prächtig unterhalten. Wenn Bob Dylan Halt macht, stehen anderntags bereits die Bootlegs zur Verfügung.
Nur wer weiß, dass jede Regung auf der Bühne unvergänglich bleibt, nimmt die Musik noch ernst und spielt, wie das Bob Dylan für gewöhnlich heute tut. Auch ohne Lidstrich.
Der Artikel erschienen am 21. Jan 2003 in der Welt
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Captain Beefheart to audience: Is everyone feeling all right? Audience: Yeahhhhh!!! awright...!!! Captain Beefheart: That's not a soulful question, that's a medical question. It's too hot in here.