Re: Blues

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wolfgang-doebeling
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KICKS ON 45 & 33

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Blues-PfaffeEs ist mE schwierig, im RS über Blues zu schreiben. Man muss bekannte Sachen wiederholen, weil die meisten Leser davon nicht viel Ahnung haben. Inwieweit WD aus den Büchern sich bedient hat oder sich hat inspirieren lassen, hab ich auf die Schnelle noch nicht nachprüfen können. Das Buch von dem Reichert hab ich noch nicht gelesen.
Es ist natürlich – gerade was die Zeit ab der Ankunft in Chicago betrifft – ein wenig zu dünn. Nicht nur was die Rivalität mit Waters betrifft. Auch das Zustandekommen von Alben wie den „London Sessions“ hätte man ausführlicher bringen müssen. Und eben auch die Tatsache, wieso elektrische Blueser aus Rücksicht auf ein weißes Publikum plötzlich Musik machten, die sie so eigentlich seit Jahrzehnten nicht mehr spielten.

Auf dengels und wolles beleidigende Unterstellungen möchte ich nicht eingehen, sie disqualifizieren sich selbst und das erneut gründlich (eine 2002 erschienene „Compi“! Reichert! My ass). Du scheinst Dir indes ein paar Gedanken gemacht zu haben, daher zu oben aufgeworfenen Fragen…

1. Du hast Recht: ich war persönlich nicht zugegen, als Wolf geboren wurde. Ich war nicht einmal in der Nähe. Die Herren Segrest und Hoffman freilich auch nicht. Der bibliographische Anhang ihres sehr lesenswerten Buches umfasst ca. 300 Quellen. Keiner der Autoren, deren Bücher ich zur Recherche herangezogen habe, schrieb aus eigenem Erleben. Wie auch? Die meisten sind noch erheblich jünger als ich. Aber etliche schafften es dennoch, ein sehr genaues und teilweise literarisch ansprechendes Bild dieser kulturellen Koordinaten zu skizzieren, mit dem Ziel, die Epoche, die Lebensbedingungen, die Kunst und die Künstler einer ästhetisch oder intellektuell prädisponierten Öffentlichkeit so zu vermitteln, daß daraus ein echtes Interesse erwächst. Nicht etwa, damit eine omimöse „Blues-Gemeinde“ Zulauf erhält. Mit dieser nicht von ungefähr „Gemeinde“ genannten Selbstbeschränkungsgemeinschaft ist es nämlich so wie mit allen Gemeinden: sie sind buchstäblich beschränkt.

Zurück zu Deinen Anmerkungen: Ja, ich habe viel gelesen, um den Text schreiben zu können. Weit mehr als 20 Bücher. Einige davon wie die von Cohn oder Charters oder Cohodas oder Oliver vor vielen Jahren schon. Bei anderen wie Rooney oder Lomax oder Dickerson habe ich die Lektüre aktuell aufgefrischt. Um die Chronologie stichfest zu machen. Dabei ist es unumgänglich, bestimmte Phasen einer Lebens- und Leidensgeschichte etwas zu raffen, um anderen, die für die künstlerische Evolution konstitutiver sind, mehr Raum geben zu können. So wurde die Rivalität mit Muddy nur gestreift, die Sucht- und Krankheitsgeschichte nur angedeutet, etc. Wäre ich auf diese oder andere „zu kurz gekommene“ Aspekte näher eingegangen, wären die Kindheitstage im Eiltempo zu bewältigen gewesen. Kurzum, wer mehr Chicago und Elektrifizierung will, muß auch sagen können, was stattdessen verzichtbar gewesen wäre. Das Delta? Der Rassismus? Memphis? Im übrigen gebe ich zu bedenken, daß an derselben Stelle unlängst Mr.Waters „abgehandelt“ wurde, und daß ich anläßlich dessen Würdigung viel ausführlicher auf die Situation in Chicago an der Schwelle zu den 50er Jahren einging, inclusive Elektrifizierung. Läßt sich ja nachlesen. Ist freilich ähnlich „schlecht geschrieben“ wie das Wolf-Porträt.

Schließlich: Deinen letzten Satz verstehe ich nicht. Die „Blueser“, wie Du sie nennst, lebten spätestens ab 1964/65 fast ausschließlich vom weißen Publikum. Anders ausgedrückt: ohne dieses weiße Publikum wäre es den „Bluesern“ ergangen wie den Panthern im Delta: sie wären schnell ausgestorben und heute nur noch in subventionierten Blues-Biotopen zu bewundern.

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