Re: Tinas Faves

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tina-toledo
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Oasis – (What´s The Story) Morning Glory
(Helter Skelter (Sony) – 1995)

Zur Begrüßung ein „Hello“ mit dem Schlagstock: kurz ein paar leise Akustik-Klänge, dann der Bruch, die kurz aufgluckernde Gitarre, und schon die volle Dröhnung. „I don’t feel as if I know you, you take up all my time“: das eigenartige selbstzerstörerische Element in der Stimme, dann die etwas versöhnlichere, aber nicht minder druckvolle Refrain-Melodie, das schräge Echo „it’s good to be back, good to be back“, jaulende, dröhnende, überlappende Gitarren, grimmig-rumpelndes Schlagzeug, und dann der finale Beckenschlag – ein Schaudern im Nacken. Und schon ist der Spuk vorbei. Aber die Welt scheint eine andere als noch vor drei Minuten und siebzehn Sekunden.
Jeder hat in der Kindheit und Jugend Hörerlebnisse, die so einschneidend sind, dass er sie nie mehr vergisst. Zu meinen allerersten dieser Sorte gehörten die 50 Minuten, die ich mit 10 Jahren in der Ecke meines Kinderzimmers hockend, mit diesem soeben aus der Plattensammlung meines Vaters stibitzten Album verbrachte. Das erste Mal das himmlische „Don‘ t Look Back In Anger“ zu hören, auf einmal Gänsehaut zu bekommen, und den Drang zu verspüren, im Zimmer herumzuhopsen vor Glück – das waren Momente, die sich langfristig ins Hirn brannten. Wann immer ich fortan die Chance bekam: Tür zu, Augen zu, Kopfhörer auf. Das Mitsingen bei „Morning Glory“ mit dem Kamm vor dem Spiegel, die verzweifelten Versuche, die entspannt-holpernden Drumschläge von „Wonderwall“ synchron auf der Bettkante zu schlagen, dem Wellenrauschen und den Anfangstakten von „Champagne Supernova“ zu lauschen – das war etwas völlig Neues, Aufregendes, Durchdringendes. Keine Frage, über diese Band musste man einfach alles wissen, und am liebsten sofort.

Bereits Wochen und Monate vor Veröffentlichung von „Morning Glory“ war die Band in den britischen Klatschmagazinen, allen voran den von Minute eins an bedingungslos Oasis ergebenen NME und Melody Maker, omnipräsent gewesen – selbst die britischen Äquivalente zu Tagesthemen und Tagesschau berichteten regelmäßig. Oasis in Glastonbury – Oasis in Roskilde – Noel mit Paul Weller – Liam mit Photomodel – Oasis feuern Drummer – Noel verlässt Oasis, etc. Hype und Diffamierung – seitens der Medien wurde alles hemmungslos ausgeschlachtet, und die Band lieferte, zumindest in den ersten Jahren, durchaus bewusst und in Mengen das zähe Rohfleisch. Drogenexzesse, Affairen, Schlägereien, kontroverse Interviews – Oasis lebten und verkörperten den Rock’n’Roll, den grenzenlosen Hedonismus.
Die mit Abstand schlagzeilenträchtigste Begebenheit war das von Presse und Band bis zur Absurdität hochstilisierte „battle of the bands“ im Juli 1995 (kurz vor Erscheinen von „Morning Glory“), als sowohl Oasis als auch Damon Albarns Blur bekannt gaben, am selben Tag eine neue Single zu veröffentlichen. Die bereits zweite Vorab-Single-Auskopplung „Roll With It“ (freilich nur mäßig spannend und rückblickend einer der schwächeren Tracks auf „Morning Glory“) zog gegenüber Blurs „Country House“ recht deutlich den Kürzeren. Doch schon bald wurde klar, dass Oasis, am kommerziellen Erfolg gemessen, noch meilenweit an Blur vorbeiziehen und die allerschwindeligsten Höhen des Pophimmels erklimmen würden.
„Morning Glory“ erscheint in Großbritannien am 29. September 1995 und wird dort schnellstverkauftes Album seit Michael Jacksons „Bad“. Und nach VÖ der beiden Singles „Wonderwall“ und „Don’t Look Back In Anger“ im Oktober gleichen Jahres bzw. Februar des darauf folgenden Jahres, wird „Morning Glory“ auch international zum Megaseller, mit nahezu 10 Millionen verkauften Exemplaren innerhalb des ersten Jahres. Interessanterweise waren die frühen Kritiken zu „Morning Glory“ im Vergleich zu denen des Debuts meist einigermaßen verhalten. Keine Totalverrisse, aber auch wenig Begeisterungsstürme. Besonders in Großbritannien schien man, zumindest anfangs, doch einigermaßen irritiert von Oasis‘ Zweitwerk.

Denn seit dem Debut „Definitely Maybe“ hatte die Band, ganz abseits aller unreifer medialer Auftritte, eine erstaunliche musikalische Entwicklung vollzogen. Ein ordentliches Stück der naiv-großmäuligen Unbedarftheit, die „Definitely Maybe“ noch zu einem nicht unwesentlichen Teil ausgemacht hatte, war gewichen, gleichzeitig war Noel als Songwriter gewachsen, und erblüht war ein glorioses, nahezu perfektes Popalbum. Die Band spielte merklich differenzierter und melodiedienlicher, Produktion und Arrangements waren sehr viel komplexer und durchdachter, an manchen Stellen erstaunlich detailverliebt. Noel schrieb immer noch melodieselige Hymnen, aber nun teilweise von verblüffend abgeklärter, subtiler Schönheit – wobei Liams charismatisch-raue, immer leicht näselnde Vocals, obwohl ebenfalls feinsinnigere Untertöne entwickelnd, jede traumwandlerische Noel-Komposition davon abhielt, an irgendwelche Kitschgrenzen zu stoßen.
Die Texte waren dabei im Prinzip immer noch simpel und direkt, doch während bisher im Wesentlichen hedonistische Parolen (a la “Is it worth the aggrivation to find yourself a job when there’s nothing worth working for?/It’s a crazy situation, but all I need are cigarettes and alcohol“) und mittelwertvolle (wenn auch freilich wirkungsvolle) Wegwerf-Lyrics die Essenz der Oasis-Texte gebildet hatten, tauchten auf dem Zweitwerk erstmals Irrwege, Zweifel, Reue und Verlust im Oasis-Vokabular auf. „Here’s a thought for every man who tries to understand what is in his hands“ singt Liam mit leicht gebrochener Stimme in „Cast No Shadow“. “Here’s a „thought“?? Was war aus all den glasklaren Ansagen, den scheinbar simplen Antworten zum Leben geworden, die Oasis auf dem Debut noch rotzig und wie selbstverständlich herausspuckten? Keine Frage, der ältere Gallagher hatte begonnen, etwas sorgfältiger zu reflektieren, und dies schlug sich auch in den Lyrics nieder. Und doch war er im Prinzip immer noch ein eher fauler Texter – nie hatte er einen Hehl daraus gemacht, dass es ihm stets in erster Linie um die Melodie und die Arrangements ging – und viele Lyrics schienen weiterhin mehr wie Skizzen, und manches einfach komplett sinnfrei. Im Übrigen hatten die Lieblingsrivalen von Blur natürlich von Anfang an den fraglos intellektuelleren Ansatz gehabt, waren musikalisch und textlich mutiger und ambitionierter, und natürlich war Oasis in der öffentlichen Wahrnehmung immer die großmäulige working-class-band für´s einfache Volk gewesen, und daran änderte sich im Prinzip auch auf dem Zweitling nichts Grundlegendes. Kern und Motor eines jeden Tracks war immer noch stets ein Gefühl, und kein Gedanke. Und doch erweiterten Oasis ihr Spektrum mit „Morning Glory“ kompositorisch, textlich und arrangement-technisch um eine Vielzahl von Farben.
In gewisser Weise ist das Zweitwerk, freilich relativ gesehen, Oasis‘ bescheidenstes, moderatestes und abgeklärtestes Werk. Produktion und Texte bezüglich stapelte die Band, im Vergleich zum Vorgänger, auf einmal ein ganzes Stück tiefer. Diese feinsinnigeren, introspektiveren Noel-Kompositionen gab es zwar auch später immer wieder, aber auf den beiden Nachfolgern (und insbesondere auf „Be Here Now“), drohten sie teilweise durch die äußerst pompöse, schwerfüßige Breitwandproduktion, und die dicht-gewebten Gitarrenwände, erdrückt zu werden. Auf „Morning Glory“ atmen die wundervollen Melodien, es schweben die Songs. Zwar dröhnt und scheppert genauso oft die Gitarre, kloppt und hämmert das Schlagzeug, bricht die Stimme – doch eben alles in songdienlichem Maße, die Melodien mal feiner, und mal grober umrahmend. Das Album schlug langsam aber sicher ein, und die Musikwelt feierte und feierte. Und feiert immer noch, rückblickend eins der fraglos größten Pop-Alben der 90er.
„Morning Glory“ bildete gewissermaßen den Beton-Sockel um das, zu dem Oasis werden sollten: Eine feste Institution, und wie selbstverständlich Teil des rot-weiß-blau schimmernden britischen Kulturguts. Unmengen aktueller britischer Künstler berufen sich auf Oasis, Bands wie die schwedischen Mando Diao inszenieren sich bewusst als Weiterführung der Phänome Beatles und Oasis, inklusive Referenzen, Zitaten und Gallagher’schem Größenwahn.
Noel gab einmal ganz zu Anfang seiner Karriere, für seine Verhältnisse noch bescheiden, zu Protokoll: „That’s all I really want out of this: If five years after Oasis broke up, a thousand new bands will be out there, we’ll have done a good job.“ Die Anzahl der von Oasis inspirierten Bands sollte diese Zahl längst überschritten haben – und die Band steht und inspiriert immer noch. Auch wenn sie wohl nie wieder so himmlisch gut sein werden wie auf “Morning Glory”, man selber inzwischen vielleicht andere Herangehensweisen an Musik entwickelt hat, und man diese sorgenfreien Momente in der Jugend, in denen nichts auf der Welt zu existieren schien außer einem selber und dieser Musik, wohl genau so nicht wieder erleben wird – im Herzen wird man sie trotzdem weiter mit sich tragen, sie hin und wieder, wenn sie ein bisschen Staub anzusetzen drohen, abklopfen, und eine Oasis-Platte auflegen.

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Sir, I'm going to have to ask you to exit the donut!