Re: Hörgewohnheiten

Startseite Foren Kulturgut Das musikalische Philosophicum Hörgewohnheiten Re: Hörgewohnheiten

#5296307  | PERMALINK

daniel_belsazar

Registriert seit: 19.04.2006

Beiträge: 1,253

Eigentlich gehört es ja nicht hierher, aber die Diskussion reizt mich doch ein bisschen … und das, obwohl ich kein ausgesprochener Ästhetiker bin.

mistadobalina, lane, faspotun hängen sicher einem etwas anachronistischen Kunstbegriff an, der nur mit dem Hinweis auf eine „Aura“ überhaupt haltbar erscheinen mag. Natürlich ist das über 70 Jahre nach Benjamins Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ argumentativ nicht mehr möglich, sondern nur noch in romantisierender Gläubigkeit (Um Einwänden zuvor zu kommen: Man kann das wollen, aber es ist dann eben reiner Glaube).

Nichts desto weniger zeigt es offenbar ein sehr wirkungsmächtiges Bedürfnis an, wimmelt es doch gerade in Diskussionen über populäre Musik – auch hier im Forum immer wieder – beispielsweise von „Genies“, einem der klassischen romantischen Begriffe überhaupt. Ich komme später darauf noch einmal zurück.

Denn zuvor noch einen kleinen Exkurs über die „Gegenpositionen“ (ah-um, mikko). Meines Erachtens greift auch hier der Kunstbegriff viel zu kurz. So etwas wie Bohlen oder Bobo (und auch alle anderen Musik- und ähnliche Kulturphänomene) ist ja schon lange nicht mehr isoliert zu betrachten. Erwähnt sei hier stellvertretend der relativ bekannte – für mich übrigens auch schon „anromantisierte“ – Adornosche Begriff der „Bewusstseinsindustrie“. Im Zeitalter auch der „ständigen technischen Verfügbarkeit“ des Kunstwerkes, in dem wir spätestens mit dem Netz angelangt sind – was voraussichtlich im hier auch erwähnten >Streaming< kulminieren wird -, ist die Entwicklung schon wieder einen Schritt weiter. Denn längst haben die Verbreitungskanäle, die Medien, die bereits durch die Reproduzierbarkeit "entzauberten" Kunstwerke in ihrer ursprünglich elitären Bedeutung komplett demokratisiert und damit zugleich gleichgeschaltet und der Beliebigkeit anheim gegeben. Insofern sind Bohlen oder Bobo auch keine Künstler-Subjekte, die gibt es gar nicht mehr. Sie sind vielmehr Medienkonstrukte. Die Kunst ist dann nicht die Musik, sondern die Gesamtinszenierung als Event, komplett mit Blondschopf, Kleindoofie spielen, "Tanzmoves" und dem ganzen Drecksgeschwurbel eben. Bohlen ist ein Medien-Marketing-Gesamtkunstwerk, die "Musik" - das Aneinanderreihen von Tönen, wie ah-um richtig sagt - das Vehikel. Da nützt es auch nichts, drauf zu hauen mit romantischen Kunstvorstellungen oder Werten wie gut oder schlecht, denn der Erfolgreichste sagt auch deutlich, welches Kriterium diese Kunst bestimmt: Geld, Schotter, Asche. Wer das meiste hat, macht die beste Kunst, sagt Dieter. Und nicht nur er. Punkt. Was nun wäre dem noch entgegen zu setzen? Auf der Ebene der ästhetischen Theorie fällt mir nichts ein, da mag es Berufenere geben als gerade mich (siehe Einleitung). Aber in der Praxis gibt es zumindest einige interessante Phänomene. So zum Beispiel die Tatsache, dass es heute bereits Kunstwerke gibt, die nur daraus bestehen, dass irgendjemand - meist unter beliebig austauschbaren Pseudonymen wie DJ soundso - bereits vorhandene Medienware während einer Reproduktion verändert, mit anderen Fetzen mischt etc und damit im besten Fall eine neue, individuelle Originalität herstellt. Oft aber auch austauschbare Dutzendware, die ja immer wieder die Charts hochkriecht - wieviele so behandelte Ekel-"Oldies" sind euch aus dem Schleimradio im Ohr? Ein weiteres interessantes Phänomen ist die Wiederkehr der Live-Musik. Hier trifft sich objektives Bedürfnis der Musiker mit der oben erwähnten wirkungsmächtigen Sehnsucht der Menschen nach "Echtheit", Authentizität, Einmaligkeit (wie immer man es auch nennen mag). Warum objektives Bedürfnis der Musiker? In den vergangenen Jahrzehnten wurde das Geld in der populären Musik vor allem über Tonträger verdient. Auftritte und ganze Tourneen dienten dazu, den Platten- und dann CD-Verkauf anzuheizen, das neue Album zu bewerben. Dieses Verhältnis ist dabei sich umzudrehen bzw. hat sich in weiten Bereichen bereits gedreht. Der Träger (also das Verbreitungsmedium) ist kaum mehr priviligiert, sondern das Gegenteil: Das Internet ist 24 Stunden offen, für jeden anonymisiert erreichbar, tendenziell kostenfrei. Es kommt der Umschlagspunkt, an dem für den Musiker das Vor-Ort-Spielen deshalb wichtig wird, weil es eben nicht beliebig reproduzierbar ist. Ein Mensch kann zu einer Zeit nur an einem Ort sein und ist damit eingeschränkt verfügbar, "knapp". Eine knappe Ware ist teurer als die überall erhältliche. Daher verdient der Musiker heute wie die allermeisten seiner Vorfahren hier sein Brot. Unter anderem auch deshalb sind Stones-Tickets heute so teuer: Sie bürgen für Einmaligkeit (Exkurs: Die ironischerweise aber gerade von solchen wiederum in eigener Ästhetik-Tradiiton inszenierten Großevents relativ wenig bedient wird). Das wiederum wäre ein Hinweis auf die Beliebigkeit der repoduzierbaren Kunstware. Nur der individuelle Glaube erhebt die Ware zum einzigartigen, "auratischen" Kunstwerk. Und dennoch dürfte eine gewisse Schalheit bleiben - ich weiß nicht, wie es euch geht, ich vermeine manchmal, sie zu spüren. Anders beim Live-Erlebnis. Dies ist exklusiv. Jede Aufnahme davon ist defizitär zum selber Erlebten, es gibt es nur einmal, hier und jetzt. Und die Stoßseufzer auch hier im Forum - schade, dass ich nicht da sein kann (konnte) - und die Juchzer - ich freue mich schon, oh war das toll - sind die Selbstvergewisserung der Einmaligkeit. Wie auch immer: Sie zeigen die Mächtigkeit dieses Motivs in menschlichen Leben an. Jetzt habe ich mich verlaufen. Es ging um Hörgewohnheiten, richtig? Hatte ich nicht erwähnt, dass ich am aller, allerliebsten Musik live gespielt erlebe? Denn hier trennt sich für mich schnell die Spreu vom Weizen, die Kunst vom Stümpern: im auratischen Erlebnis ---- :b_boy: Ich abe fertig.

--

The only truth is music.