Re: Mia – Zirkus

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dominick-birdsey
Birdcore

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Im [B]Neon-Magazin stand letztens ein Artikel über die Band, der in punkto Musik, neues Album, Sängerin etc. den Nagel ziemlich auf den Kopf trifft.

Wofür steht Mia? Für den Hype? Das Krasse? Die Ungeduld? Dass die Band für etwas steht, waren sind sich alle einig – gleich nach dem Durchbruch der Band. Wir schreiben das Jahr 2002. Ulrich Wickert scheint gelöst, als er »Mia ist die Band der Stunde!« in die Tagesthemenkamera ruft. »Hieb- und Stichfest« ist gerade erschienen, das Mia-Album, das sich am direktesten bei Ideal bedient. Die Band um Annette Humpe hatte 1980 bis 1983 am Mythos Neue Deutsche Welle mitgeschrieben – mit einem minimalistischen, kantigen Sound (»Blaue Augen«). Mia klonen die kratzige Kühle von Ideal und nennen es »Elektropunk«. Alles an Mia schreit nach Hype. Sogar das Cover der CD hat etwas Blendendes: Es leuchtet im Dunkeln. An der Band um Sängerin Mieze scheiden sich die Geister. »Plakatives Zeitgeistgetue «, meint der »Tagesspiegel«. »Das beste Debüt einer deutschen Band«, urteilt ein Süddeutsches Blatt. Das Album verkauft sich fast 120 000 Mal.

Was sind Mia? Linksradikal? Rechtsradikal? Plemplem? Zwei Jahre nach »Hieb- und Stichfest « erscheint »Stille Post«. Diesmal klingen die Klaviere nach Rosenstolz. Viel geändert hat sich nicht: Wieder bedient man sich bei Ideal. Wieder scheiden sich die Geister – diesmal an der Liedzeile »Wir betreten neues, deutsches Land« aus dem Song »Was es ist«. Schnell wird kolportiert, die damals 25-jährige Mieze pflege sich auf Konzerten in eine Deutschlandflagge zu hüllen. »Diese Band ist dumm wie Brot«, urteilt die »taz«. Plötzlich prangen »Mia ist schlecht«-Aufkleber auf den Laternen Berlins. Bei einem Konzert 2004 wird die Band mit Eiern und Tomaten beworfen. Als einzige Musikgruppe überhaupt spielen Mia auf der revolutionären 1.-Mai-Demo in Berlin – und direkt darauf beim Eurovision Song Contest. Wofür stehen Mia? Energie? Erschütterung? Berlin? Wer wissen will, was Mia darstellen, muss ins Büro des Bandlabels r.o.t (»respect or tolerate«) gehen. Wie sämtliche Mia-Alben der vergangenen Jahre wurde auch die neue Produktion »Zirkus«, die diesen Sommer erscheint, hier diskutiert, erdacht und gemacht. Die Band ist heute fast berühmt – insgesamt hat sie 250 000 Platten verkauft. Etwa einhundertmal im Jahr haben Mia in den vergangenen vier Jahren live gespielt, in ausverkauften 3000-Zuschauer-Hallen und auf Festivals, bei »Melt«, bei »Immergut«, bei »Sonne, Mond und Sterne«. Dass »Tanz der Moleküle«, das Video zur ersten Single, im Musikfernsehen läuft, ist eine Selbstverständlichkeit.

Labeladresse Wolliner Straße, Mauerpark: Selbst im Sommer wirkt die Gegend im Prenzlauer Berg unfertig, diffus, als stünde hier die Mauer noch. Das Büro ist ein Loft, unendlich groß, so groß wie Baden-Württemberg. Das Büro ist Studio, Wohnklo, Videokulisse und Küche in einem. Hier bin ich verabredet, um drei Menschen zu treffen, die zum Verständnis von Mia wichtiger sind als die Gruppe selbst. Aus den Weiten der Riesenmischpulte treten hervor: Nhoah Flug, 44, der Mia-Produzent. Inga Königstadt, 27, die Mia-Managerin. Und Staab, 37, der die Touren organisiert. Als Nhoah 1997 die Schülerband »Me in affairs« im Hellersdorfer Jugendclub »Kiste« sah, gründete er mit den beiden das Label r.o.t – seither kümmern sich die drei Tag und Nacht um die Band. Wer wissen möchte, was Mia sind, fragt also am besten hier. Man könnte meinen, das schon mal jemand ein Interview mit den dreien geführt hätte. Hat aber niemand. So wenig, wie die führenden Bildagenturen Deutschlands ein Bild in ihren Archiven haben, auf dem Sängerin Mieze mit einer Deutschlandflagge zu sehen ist.

»Vielen Journalisten geht es nur darum, Schund zu verbreiten!« Wenn sich Inga Königstadt aufregt, geht sie auf die fünfzig zu. Dabei ist sie erst siebenundzwanzig. »Wir sind nie mit einer deutschen Fahne marschiert und wir haben auch niemals eine deutsche Fahne präsentiert. Das ist eine Lüge, von der Presse in die Welt gesetzt!« Grund der Aufregung: Ein selbstgeschneidertes Bühnenoutfit mit dem Berlin-Wappen auf Miezes Allerwertestem inspirierte die »Financial Times« zu der Behauptung, Mia spielten live mit Deutschland- Flagge; andere Zeitungen schrieben ab. »Von gezielter Provokation«, sagt Königstadt, »kann keine Rede sein.« Die Managerin redet sich nicht erst in Rage – sie scheint ständig in diesem Zustand zu sein. Und das seit knapp neun Jahren: Als 19-Jährige hat Königstadt mit dem Mia-Management begonnen. Anders als fast alle Newcomer arbeiteten Mia von der ersten Stunde an mit derselben Managerin, demselben Produzenten, demselben Tourmanager. Die Einkünfte aus Auftritten und Plattenverkäufen gehen zu gleichen Teilen an die fünf Bandmitglieder und die drei Labelmacher, die sich wie ein mittelständisches Unternehmen als GbR organisiert haben. Innerhalb dieses Unternehmens hat sich immer Königstadt, die Tochter zweier Republikflüchtlinge aus Ostberlin, um das Erscheinungsbild der Gruppe gekümmert. Wo andere Bands ihren Weg erst finden müssen – und dabei vielleicht eine Sackgasse wählen – standen Mia von Anfang an für einen Look, einen Sound und eine Strategie. Eine blaue Ader pocht an der Schläfe der Managerin, heftig wie ein Metronom. »Deutschland, Deutschland, immer dieses Deutschland! Wir wollen, dass es hier anders wird, dass man sich hilft und unterstützt, statt immer nur zu konsumieren.« Dabei ist die Königstadt aber auf einer künstlerischen Mission. »Mit Mia betreiben wir Musikerziehung. Den Kids wird viel Müll vorgesetzt. Da wollen wir eine Kerbe hineinhauen. Wir wollen den Kids die Möglichkeit geben, nicht nur Plastikscheiß zu konsumieren. « Also managt sie eine Band für Kinder? »Quatsch!« Die Augenringe der Managerin fließen in den weiten Raum. »Wenn man versucht sich abzuheben, wenn man frech ist, wird man in eine Ecke gestellt: Das ist doch nicht echt, das ist doch angezogen, das ist doch nur gespielt.« Für die Managerin sind Mia aber wahrhaftig – nämlich Punk, im Sinne von: Bewegung.

Dann spricht Königstadt vom schwierigen Anfang. 2001 schloss r.o.t einen Vertrag mit Sony ab, seitdem verfügt r.o.t über genügend Geld, um aufwendige Alben sowie eigene Videos zu produzieren. Dafür darf Sony BMG die CDs vertreiben. Doch erst seit zwei Jah- ren können die acht gut von der Band leben – seit der Zeit, in der sie live in großen Hallen spielt. Die Managerin spricht schon wieder, jedoch nicht mehr mit uns: Ein Telefon klingelt, eine SMS bringt das Handy in Rotation. Inga Königstadt redet immer. So führt uns Nhoah Flug durch die Weiten seines Studios in den Raum, in dem »die Goldenen« stehen. Der Produzent hat mit vielen Großen der Branche gearbeitet und dafür sechs Platinauszeichnungen erhalten. Was Flug auffiel an den Bands, mit denen er groß wurde, am Punk der 80er Jahre, war ihr Pessimismus. Flug: »Die Clubs in Westberlin waren zwar alle weiß, weiß mit ganz viel Neonlicht. Die Studios aber waren dunkel.« Damals dachte Flug, es sei normal, dass in jeder Band mindestens eine Person fixte. Er schwor sich: Sollte er selbst einmal eine Gruppe produzieren, ein eigenes Projekt, dann sollte das optimistischer sein. »Heute bin ich froh, eine Form von Vertrauen gefunden zu haben wie mit Mia, wie mit r.o.t«, lächelt uns der Mittvierziger an. »Womit können wir spielen? Welche Optik passt dazu? Das wird bei uns alles gemeinschaftlich entschieden. So was hatte ich noch nie.« Dass eine Band mit einer beinahe klassischen Rockbesetzung (Sängerin, Bassist, zwei Gitarristen und Schlagzeug) stets mit demselben Produzenten arbeitet, kommt auch höchst selten vor – bei Mia ist Nhoah der sechste Musiker. So hatte die Band von Anfang an einen eigenen, unverwechselbaren Sound. Flug bewegt sich mit der Langsamkeit eines Sektenführers. »Bands aus Berlin haben etwas Verbindliches. Seeed sind live extrem unverschämt zum Publikum, Rosenstolz machen verquere Musik – du kannst es nur gut finden oder du findest sie unerträglich.« Der Grund für den Extremismus der Berliner Bands, die ihre Hörer ständig zu einer Meinung zwingen, kennt Flug auch: »In Berlin müssen Musiker hart kämpfen. Du kannst im Café sitzen und sagen: Ich bin Gitarrist. So bekommst du vielleicht eine Freundin – einen Plattenvertrag bekommst du nicht. In Berlin musst du extrem, unverwechselbar sein, um zu überleben. Wenn man sich durch die Beurteilung von außen beeinflussen lässt, hat man dieses Spiel schon verloren, bevor es begonnen hat.« Was viele Branchengrößen erst nach Jahren verstehen – dass ein eigenes Label ein notwendiges Scharnier zwischen Band und Plattenfirma ist – war bei Mia von Anfang an klar. Nur wenige Bands, wie etwa Tomte, arbeiten mit ihrem eigenen Label ab Stunde null auf ähnliche Art. Veteran Flug: »Wenn eine Band mit einer Plattenfirma wie SonyBMG direkt verhandelt, hat sie einen schweren Stand. Die zuständigen Leute, die Produktmanager, werden in der Regel nach einem halben Jahr entlassen. Aber du kannst ja nicht deinem Partner immer wieder neu erzählen: Wie alt sind alle? Wie sehen alle aus?«

Wenn man Geld verdienen möchte, solle man lieber etwas anderes machen, meint Flug. Das meiste Geld komme eh durch Konzerte, nicht durch die Plattenverkäufe, von denen einem kleinen Label wie r.o.t knapp zwanzig Prozent des Gesamtpreises für eine CD oder einen Download zuflössen. Jetzt schaltet sich Tourmanager Staab ein. »Bis vor zwei Jahren haben wir gerackert wie die Wilden«, meint er. »Von Montag bis Freitag war ich hier – am Wochenende habe ich in der Kneipe geschuftet. Weil die Band auf »Kooperationsangebote « der Plattenfirma verzichtet habe, also auf Werbung, war die wirtschaftliche Lage lange schlecht. »Heute arbeite ich nur noch für r.o.t, für Mia, für mich. Es ist toll, dass ich mit Freunden zusammenarbeiten darf. Dass es mein Leben finanziert. Das ist ein Geschenk.«

Am Himmel stoßen fünf Wolken zusammen, scheuern aneinander vorbei, lassen Lichtstrahlen durch: Ich treffe die Band im Ostberliner Mauerpark. Sängerin Mieze, 27, wird von Andy, 25 (Gitarre), Ingo, 33 (Gitarre, Keyboard, Horn), Gunnar, 35 (Schlagzeug), und Robert, 25 (Bass), begleitet. Alles, was Sängerin Mieze erzählt, vergesse ich sofort. Es klingt gestelzt, ja, aufgesetzt. Doch als sie schließlich zum Fototermin nach langem Hin und Her ihre Jacke ablegt, ist es, als würde sie einen Verband abwickeln, ihr entfährt ein Gedanke. »Erst jetzt, wo unser zehnjähriges Jubiläum bevorsteht, hat es bei mir Klick gemacht«, meint Mieze. »Ich habe gemerkt, dass man bewahren muss, dass wir uns so gut verstehen. Weil es etwas Besonderes ist. Dass wir Arbeit und Freundschaft teilen, macht uns zu einem Zigeunerorchester, zu etwas Freiem.« So ist es auch bei den anderen Musikern, die vor Übermut fast explodieren. Wenn sie von einer Lieblingsgitarre oder vom Touren sprechen, dann leuchtet der Mauerpark. Was sie zum Album sagen, muss die Welt nicht erfahren. »Zirkus« klingt eh wie Ideal, wie alle Mia-Alben. Entweder man mag es. Oder man mag es nicht. Den besten Satz sagt Andy, der Gitarrist mit Lucky-Luke-Gesicht. »Im Zirkus ist der Clown die interessanteste Person. Er ist lustig und traurig. Nichts ist nur gut und nur schlecht. Wenn man begreift, dass Dinge gut und schlecht zugleich sein können, kann man sein Leben richtig bewerten.« Vielleicht ist es auch mit Mia so. Manches an der Band nervt, zum Beispiel ihre Sängerin. Sie redet dermaßen wirr von Presse, Glück und Liebe – wäre Mieze mit einer Gebrauchsanleitung zum Interviewtermin angeliefert worden, hätte dringestanden, dass man ihr am Ende einen Tritt in den Hintern geben soll. Was aber besonders ist an Mia, ist der Eigensinn, mit dem acht Leute neun Jahre lang ihr Ding gemacht haben. Sie haben sich nicht beirren lassen; weder anfangs, als sie keinen Erfolg hatten, noch zuletzt, als man lesen konnte, sie machten FDPPunk. Sie sind besessen geblieben von dem Gedanken, eine wirklich gute Liveband zu sein und damit ihr Leben zu meistern. Weil sie drei eigensinnige Labelbetreiber im Rücken haben, funktioniert dieses Modell bis heute. »Eigentlich «, sagt Mieze am Ende noch, »sollte es viele von uns geben.« Damit hat sie Recht. Wenn es tausend Mias gäbe und tausend r.o.ts, Deutschland wäre Abenteuerland.

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