Re: Nikos Favoriten

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nikodemus

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JOHNNY CASH – American V: A Hundred Highways

American Recordings/Lost Highway 2006

Es war der 12. September 2003, ein Freitag. Ich saß am Schreibtisch und nebenan, bei meiner Kollegin, lief das Radio. „Johnny Cash ist tot“, so der Nachrichtensprecher, „er starb im Baptist Hospital in Nashville an Lungenversagen“. In diesem Moment realisierte ich das Geschehene noch nicht richtig, ich war gefasst, da man in den letzten Jahren schon öfters damit rechnete, diese Nachricht zu hören.

Vor meinem geistigen Auge lief ein Film von Bildern ab, ähnlich dem Video zu
„Hurt“, Cash in jungen Jahren, auf Eisenbahnen, Bühnen, Gefängnissen und in TV Serien, bis zu hin zu dem gebrechlichen Cash kurz vor seinem Tod. Egal zu welcher Zeit, Cash war für mich immer eine weise, alte Gestalt. Schon in den Bildern der 60er Jahre sah man Cash sein Alter an und in den letzten Jahren sah er deutlich älter aus als die 72 Jahre, die ihm sein Schöpfer zugestand.

Musikalisch kannte ich natürlich seine bekannten Hits, doch zu schätzen lernte ich ihn erst seit seinen Aufnahmen mit Rick Rubin. Cash war ein toller Geschichtenerzähler, auch wenn diese, besonders auf den ersten Alben der American-Reihe, genau dies für mich blieben: Geschichten. Cash war weiß Gott niemand, den es an Glaubwürdigkeit mangelte, dennoch gelangen ihm einige seiner Cover besser („Hurt“, „I See A Darkness“), andere schlechter („Bridge Over Toubled Water“,“Bird On A Wire“) und manchen merkte man an, dass Rubin sie ihm in den Schoß gelegt hatte („Rusty Cage“, „Personal Jesus“). Doch sang Cash von seiner Liebe zu seiner geliebten June oder über das unvermeidliche Ende, konnte ihm keiner das Wasser reichen.

Drei Jahre später, Cash war tot und Rubin hatte dankenswerter Weise gewartet, bis sich der Hype um Cashs Tod sowie seiner verfilmten Biographie gelegt hat. Im Vorfeld waren die Bedenken groß, was konnte noch kommen, sollten die letzten Atemzüge Cashs veröffentlicht werden? Und doch war es gerade Cash, der nach dem Tod Junes im Mai 2004 auf Rubin zugang und sich in die Arbeit stürzte und sich laut Rubin so äußerte: ‚I need to have something to do every day. Otherwise, there’s no reason for me to be here.‘ “

„American V: A Hundred Highways“ hatte natürlich nichts mehr von der Rohheit und Brutalität der ersten American Alben, doch wer erwartete das noch? Auf „A Hundred Highways“ überwiegen die Sehnsuchts- und Todesballaden, getragen von einer müden, alten Stimme und einer (jawohl!) würdevollen Untermalung von Campbell, Tench und co., die auch schon frühere Alben definierten. Sentimental schimpften das die Einen, die es gut meinten, überzogener Kitsch die Herzlosen. Natürlich waren die vertonten Lieder traditionell und doch, wer konnte sie überzeugender darbieten als Cash? Die Stimme brüchig und doch spürte man die Stärke darin. Seine Lesung von „If you could read my mind“ zerfällt in purer zerbrechlicher Schönheit, seine Abschiedszeilen in Hank Williams „On The Evening Train“ können nicht direkter einen Stich ins Herz beschreiben: “I pray that God will give me courage to carry on til we meet again, it’s hard to know she’s gone forever, they’re carryin’ her home, on the evening train”. Selbst gewöhnliche Lieder wie „Rose Of My Heart“ mit ihrer einfachen Sprache und konventionellen Melodien veredelte Cash in Auszüge aus seinem gemeinsamen Tagebuch mit June.

„American V: A Hundred Highways“ bietet genug Angriffsfläche, die man Rubin vorwerfen könnte, seien es Eindimensionalität, mangelnde Dynamik oder austauschbare Kompositionen. Dennoch besticht das Album durch einen Rahmen, eine zusammenfließende Energie, Intensität und eine Kohärenz, die selbst den Vorgängen fehlt und die ich nicht missen möchte. Ich kann jeden verstehen, dem diese Ergriffenheit zu viel ist, mir gibt sie mehr als die übrigen Alben der American Reihe. Cash hat sicher bessere und wichtigere Musik gemacht, kaum eine geht mir jedoch mehr zu Herzen als „American V: A Hundred Highways“.

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and now we rise and we are everywhere