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Scott Walker – „Scott 4“
Fontana 1969
England, Mitte der 60er Jahre. Noel Scott Engel und seine kalifornischen ’Brüder’ John Maus und Gary Leeds siedeln über nach England und machen in kurzer Zeit mit bombastischen Pop-Balladen von sich reden. Beeinflusst von Spectors Wall-Of-Sound karrten die Walker Brothers um die 30 Musiker in das recht kleine Studio ihres Philips-Labels, veredelten bekannte Klassiker das Bacharach/David Original „Make It Easy On Yourself“, Dylans „Love Minus Zero“ oder Newman „I Don’t Want To Hear It Anymore“. Sie stürmten die Charts und Ende 1965 wählen die Leser des Melody Maker sie zu dem „Most Promising International Act“.
Für einen kurzen Moment in der Popgeschichte übertrumpfte die Walkermania sogar die Beatlemania und Scott und seine falschen Brüder stiegen empor zu Teenie-Idolen. Doch bald wurden die Hysterie und der Presserummel zu viel für den scheuen Scott. Er stürzte sich in Alkohol, zog sich in Kloster zurück, täuschte gar einen Unfall vor, um ein Konzert aus dem Weg zu gehen und später versuchte angeblich, sich selbst umzubringen.
“I had too many bad experiences in the Sixties; they just left this sort of scar,… I was drinking and all that stuff”, bekannte er in einen der wenigen Interviews Ende der 90iger Jahre. Scott zog sich zurück, begeisterte sich von nun für die Werke Jean Paul Satres, Albert Camus sowie für den russischen Dichter Yevgney Yevtushenko, beanspruchte aber andererseits eine gewichtigere Rolle bei Songauswahl und Arrangements.
Es kriselte innerhalb der Band, John und Gary sahen sich immer mehr als Backing Band für Scott und nach nur wenigen Monaten des Erfolgs, lösten sich die Walker Brothers Ende 1967 aufgrund bandinterner Spannungen und künstlerischer Differenzen vorerst auf (ein Jahr später kam es zu einer auf Vinyl festgehaltenen Japantournee, 1975 zur Reunion für drei weitere Alben).
Im selben Jahr begann Scott mit den Aufnahmen seiner Soloaufnahmen. Getragen von den unglaublichen Arrangements von Wally Stott, Reg Guest und Peter Knight, entfernte sich Scott von den oftmals einfachen Boy-Meets-Girl-Tracks früherer Tage und sang über Einsamkeit, Entfremdung und Liebessehnsucht bis hin zu Prostituierten, Transsexuellen, das Älterwerden und der eigenen Sterblichkeit. Inspiriert von Jacques Brel verkörperte er dessen Lyrik, sang mit nie erreichter Emphase und hatte damit sogar Erfolg. Seine LPs „Scott“, „Scott 2“ und „Scott 3“ enterten die Charts, sein größter Solo-Hit „Jackie“ erreicht Platz 22 der UK-Charts und Scott bekam seine eigene TV-Show.
1969. Scott fand immer mehr zu seinem eigenen Stil und die Coverversionen nahmen in der gleichen Anzahl ab, wie das Spektrum seiner Sujets zunahm. Scott verzichtete sogar gänzlich auf Brel und schuf ein Meisterwerk par excellence. Inspiriert von Bergmans gleichnamigen Film von 1957, begann „Scott 4“ mit „The Seventh Seal“ und der Geschichte eines aus dem Krieg heimkehrenden Ritters, welcher ein Schachduell mit Tod führt, um Zeit zu gewinnen, die er der Suche Gottes widmen will. Untermalt mit Flamenco-Gitarren, einer umherirrenden Trompete und eines unheimlichen Chors ist dies doch mehr Pop als je vor bei Scott. Das kurze, nachdenkliche „On Your Own Again“ philosophiert über den Verlust der Liebe und beeindruckt durch Wally Knights unheimliche Orchestrierung.
„Longing for belongings here again, and I need your laugh, you know I can’t pretend anymore“ gibt ein liebeskranker Scott in „The World Strongest Man“ unumwunden zu. Das mystische “Angel Of Ashes” spielt mit religiösen Motiven… “I can recommend angels, I’ve watched as they’ve made a man strong” beschwört uns Scott, wohl wissend dass er uns doch gänzlich im Dunkeln lässt. Die poetischen Bilder in „Boy Child“ werfen ebenso viele Fragen wie Antworten auf. Ein zitterndes, namenloses Kind, die Suche nach einer Frau die gibt anstatt zu nehmen. Selbst die bloße Ahnung dieses berührenden Lamentos, lässt einem die Nackenhaare stehen.
In den folgenden Stücken wird Scott erstmals politisch, betrachtet in „Hero Of The War“ das Leben eines Soldaten und erinnert in seiner Bösartigkeit an Dylans „John Brown“. Eine der prägnantesten Basslinien überhaupt leitet „The Old Man’s Back Again“ ein, Scotts Kommentar über das Scheitern des Prager Frühlings und die Restalinisierung der Tschechoslowakei. Ein treibender Beat treibt den Song voran und nie war Scott in seinen Solojahren näher am Zeitgeist der Popmusik als hier.
In „Duchess“ taucht erstmals eine Slide Guitar auf und eine zarte Melodie verzaubert dieses Stück über die Liebe und die spezielle Schönheit des Alters und der Reife. „Get Behind Me“ besticht durch die Kombination aus E-Gitarre und Streicher, der weibliche Background Chor und die Countryanleihen verpassen auch diesem Song etwas Zeitgemäßes. Der melancholische Abschluss mit „Rhymes Of Goodbye“ ist abermals bilderreiches Kopfkino, gepaart mit dieser immer noch sehnsüchtigen Stimme und den lyrischen Streichern.
Kommerziell war „Scott 4“ eine Katastrophe, was wohl weniger an der Musik sondern an der Vermarktung lag. Zum einen erschien „Scott 4“ unter seinen regulärem Namen, Noel Scott Engel. Weiterhin war es bereits das dritte Scott Album in 1969 (nach „Scott 3“ und „Sings Songs From His TV Series“) und während alles um ihn herum in Aufruhr war, blieb Scott der unzugängliche, wenig hippe Loner, der über Themen sang, die fast keiner verstand. So blieb es über Jahrzehnte, bis heute.
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