Re: Nikos Favoriten

#5223305  | PERMALINK

nikodemus

Registriert seit: 07.03.2004

Beiträge: 21,307

Pulp – „We Love Life“
Universal Island Records 2001

Nein, von Pulp nahm ich in den 90ern gar nichts wahr. Dachte ich zumindest ziemlich lange und als ich irgendwann begann, mich mit Pulp zu beschäftigen, erkannte ich natürlich Common People, natürlich Disco 2000. Das waren also Pulp, anno 95. Sechs Jahre später… Britpop war schon längst am vergammeln, die Zeiten der Ironie vorbei und die Welt hielt angesichts der aktuellen Geschehnisse den Atem an.

Mittlerweile hatte ich mir DIFFERENT CLASS und THIS IS HARDCORE besorgt, hatte zusammen mit Jarvis dem Hedonismus gefrönt und litt zusammen mit ihm unter dem bösen Kater am Morgen danach. Und jetzt WE LOVE LIVE. Schon die Titelwahl suggerierte, dass Jarvis Cocker mit seiner Umwelt Frieden geschlossen hat. Aber so einfach war und ist es ja nie. Rein in die Platte, raus in das Leben. Suchten Pulp ihr Heil nun in Blumen, Kräutern, Bäumen, Vögel und der Schönheit der Natur?

So richtig wusste keiner, was in Jarvis nach THIS IS HARDCORE vorging und die ersten Eindrücke der Presse zu den Promo-Songs (hier: „Sunrise“) waren eher skeptisch bis unsicher…

„Takes a while to get going, and shit, has Jarv still got The Fear? But slowly, surely, with some Wagnerian choralling in the background, Pulp wig out with the party hard baroque’n’roll they’ve long since claimed as their own…..“ THE FACE

Anfang Oktober 2001 erschien dann die erste Single „The Trees“ / „Sunrise“ und beide Songs lieferten den perfekten Eindruck, welches Pulps Opus Magnum später auszeichnete. Im ersten Moment unscheinbar, fast schüchtern erklingt „The Trees“, perkussive Streicher leiten das Weihelied über die ungeliebten Sauerstoffspender ein. Und doch ist „The Trees“ viel mehr die wunderbarste Metapher für die Geringschätzung von Selbstverständlichkeiten. Es raschelt, flötet und Jarvis säuselt: „you try to shape the world to what you want the world to be“. Unglücklich verliebt klingt das noch immer, wenn Jarvis von verzerrten Herzen singt, die er in die Baumrinden geritzt hat.

Den neuen Sound von „We Love Life“ verdanken wir nicht zuletzt dem Wechsel des Produzenten. Die äußerst erfolgreiche Zusammenarbeit mit Chris Thomas wurde eingetauscht durch Jarvis’ personal hero Scott Walker, dessen Einfluss besonders auf den düsteren „Wickerman“ oder dem bombastischen „Sunrise“ zu hören ist. Aber Schritt für Schritt.

Den Beginn macht „Weeds“, Cockers Unterschichtenhymne über die Unkräuter der Gesellschaft und droht: „thru’ cracks in the pavement: there weeds will grow – the places you don’t go“. Dunkel geht’s weiter, Jarvis taucht unter in einem rezitativem Trip Hop Stück. Selbst wenn es klingt, als hätte Jarvis hier das ein oder andere Mal das falsche Kraut geraucht, der hypnotische Sog von „the origin of the species“ verfehlt seine Wirkung nicht.

Natürlich zieht Jarvis auch wieder seine größte Waffe; wie kein anderer Crooner seiner Liga beherrscht es Cocker seine tiefe Stimme in panische Höhen zu stürzen, Oktaven zu überspringen, um den Wahnsinn direkt ins Auge zu schauen. So lässt er uns in dem quasi-Titelsong „I Love Life“ wissen: „you’ve got to fight to death fort the right to live your life“ . Cocker kreuzt Zorn mit Trotz in der bekannten fuck y’all Attitüde, die wir schon auf DIFFERENT CLASS liebten… we just want the right to be different…cause, “your’e in the land of the living but there’s so few signs of life” . Nie war verlieren schöner als zusammen an Jarvis’ Seite. Mit „It will not stop, it will get worse from day to day ‚til your admit that your’re a fuck-up…like the rest of us” versucht uns Jarvis in dem exemplarisch betitelten “The Only Way Is Down (>>Bob Lind)” zu trösten.

So kämpfen sich Pulp durch zauberhaften Pop (“Birds In Your Garden“), die Chöre schwellen an, es flötet und zwitschert an allen Enden. Im zentralen, enigmatischen „Wickerman“ schleift uns der unglücklich Verliebte sogar durch die Kanalisation, hoffnungslos scheint er sich seinem Schicksal und der Natur hinzugeben, unterlegt von allerlei Naturgewalten steigern sich Walkers unheimlichen Streicher in dieses fast neunminütige Epos voller Pathos, Lärm und Herzschmerz.

„Bad Cover Version“ erinnert selbstironisch an vergangene Zeiten, Pulp nehmen die Stones, Tom & Jerry und nicht zuletzt Walker himself auf’s Korn. Eine unwiderstehliche Melodie kreuzt Jarvis’ Wimmern, wenn dieser in den eigentlichen Zeilen bekennt… „a bad cover version of love is not the real thing“. Der vollendetet Pop von „Bad Cover Version“ wurde sinnigerweise als zweite Single auserkoren und geadelt mit dem wahnwitzigsten Video seit eben jener Erfindung. Dem tragischen „Roadkill“, in welchem unser Held wieder mal die Zeichen der Zeit nicht erkennt, folgt „Sunrise“, Pulps großartiger Abgesang auf die Liebe und das Auf und Ab des Lebens, dosiert mit dem letzten Funken Optimismus, dem Pulp in diesem Spiel Leben noch ausmachen können. „here’s your sunrise when you’ve been awake all night long & you feel like crashing out at dawn; but you’ve been awake all night, so why should you crash out at dawn?” .

Pulp heben ein letztes Mal ab, Chöre und Gitarren ertürmen sich zum pastoralen Crescendo, erlöschen und flüchten ins Nirvana. Danach konnte nichts mehr kommen, Pulp befinden sich seitdem in „kreativer Pause“. Ihre Geschichte war erzählt und Cocker wurde erwachsen und lies uns allein mit unseren Alltagssorgen. The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore? Pah!

--

and now we rise and we are everywhere