Startseite › Foren › Über Bands, Solokünstler und Genres › Solokünstler › Wenzel › Re: Wenzel
Polka statt Polonaise
Liedermacher:
Die blühenden Landschaften des Herrn Kohl blieben Utopie, der Osten aber hat sich selten gewordene Talente bewahrt: Er schreibt herrliche Lieder.
Bei Holger Czukay war der Osten noch rot, heute ist der Osten still oder schrill. Pophistorisch haben die dazugewonnenen Ländereien jenseits des einstigen Todesstreifens bisher kaum Wellen geschlagen, rammsteinerne Vorsetzlichkeiten mal ausgenommen. Sie hat uns schwer beladen, die DDR, mit eben dem, was in Deutschland ohnehin gern blüht und gedeiht: mit langlebigen Klischees und Vorurteilen. Für den aufgeschlossenen Westler schien der kleine, fremde Nachbar ein Land, in dem Literatur und zwischenmenschliche Wärme bedeutsame Güter waren. Nach dem Fall der Mauer hat der Ossi dann dem Wessi die GTIs und Billigflüge nach Malle unterm Arsch weggekauft, fürs Begrüßungsgeld.
Doch die schöne Kultur nischengewöhnter Intellektualität, versteckter Ironie-Anschläge und derber Lebenslust hat es, wie wir inzwischen wissen, nicht nur tatsächlich auch gegeben, sie ist nicht einmal tot. Sie ist bloß nicht so einfach zu finden, vor allem muss man dafür über den eigenen Schatten springen, eine schwierige Übung. Vor Jahren etwa trafen wir den Künstler Herman van Veen in Weimar, wo er uns den seltsamen Satz anvertraute, erst hier, im Osten, fühle er sich wirklich wie in Deutschland. Kurz darauf erst ahnten wir zumindest, was der kluge Niederländer gemeint haben könnte. Wir sahen eine DVD von Wenzel, Liedermacherheld im Osten, unbekannt bei uns. Nach zwei Songs lächelten wir über Birkenstock-Träger beim Mitsingen, drei Stücke weiter hätten wir uns gern selbst geohrfeigt, Wenzel machte genau jene Musik, nach der wir schon so lange vergeblich suchten.
Seither sind wir Fans. Und dürfen beobachten, wie sich die Klänge des nicht nur deutschen Ostens wie Kriechstrom bei uns breitmachen, Shantel oder Russendisko waren chancenlos gewesen vor der Perestroika, Wenzel ist – leider oder Gott sei Dank – nicht hip genug für einen Boom, aber auch seine Lieder lassen sich nicht unterkriegen. Wenn wir seinem neuen Album „Glaubt nie, was ich singe“, lauschen, beschleicht uns vieles, vor allem aber Hoffnung und Sehnsucht. Es müsste viel mehr Lieder geben, die im Wohnzimmer, auf dem Campingplatz und in der Kneipe funktionieren, ohne die Leute zum doofen Mob zu machen. Aus dem Westen kommen heute die schlechten Nachrichten, der Osten scheint unsere Zukunft zu sein. Vielleicht auch schon wieder nur Klischees, aber zu denen gibt es wenigstens richtig schöne Musik. Wenzel sei Dank.
von stefan knulle
WOM Magazin November 2007
--