Re: Die goldenen Zitronen

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Erste Eindrücke vom gestrigen Heidelberger Konzert bei regioactive.de:

DIE GOLDENEN ZITRONEN — Samstag, 05.12.2009 Heidelberg, Karlstorbahnhof

Die Bühne im nur halb gefüllten Heidelberger Karlstorbahnhof schien an diesem Abend wie künstlich verkleinert: Rechts und links ein Sammelsurium an Instrumenten, dazwischen Verstärker, Tische, Mikroständer, Laptops, tanzende kleine Stroboroboter. Nur die halbe Torwand von der Lenin-Tour fehlte noch, aber die hätte als zusätzliches Requisit ohnehin keinen Platz mehr gehabt. Stattdessen im Hintergrund eine Videoleinwand.
Bevor die Show der Goldenen Zitronen aber beginnt, noch die Frage: wird’s einen Support geben? Ja, wird es. Thomas Mahmoud (ex-Von Spar, The Oliver Twist, A**gro Cologne u.a.) betritt gegen 21.30 Uhr die Bühne, bearbeitet seinen Laptop und komplimentiert mit teils enervierender Elektronik, Spoken Word-Exzessen und Industrial-Krach, aus dem sich mitunter erstaunliche Grooveminiaturen schälen, zunächst einmal rund die Hälfte des Publikums nach draußen. Die Akustik im Karlstorbahnhof ist nunmal nicht die allerbeste. Auch diesmal nicht. Und tiefdrückende Bässe erträgt man da, ebenso wie schrille Spitzen, nur in wohldosierter Form. Oder man sucht eben mal zwischenzeitlich das Weite. Verdenken kann man’s eigentlich niemandem.
Eine knappe Stunde später skandiert Schorsch Kamerun im Halbdunkel und zum perkussiven Geklöppel seiner Bandkollegen die ersten Zeilen aus „Mila“: „Was ich wirklich nicht oft tue, ist, mich verlaufen…“. Auf der Videoleinwand passend dazu: Menschen, die sich in einem dunklen Wald verlaufen. Die Entstehung der Nacht als Lynch-esquer Spuk.
Aber zur stilisierten Inszenierung gehören auch entsprechende Kostüme. Und das Outift der Goldenen Zitronen ist 2009 ebenso farbenprächtig wie schrill. Highlights: Julius Block als Kalif, Enno Palucca als Teufel und der ewig Dreißigjährige Schorsch im wallenden Kaftanfummel inkl. silberner Zitrone. „Wo habt ihr denn eure Kleider her?“ will dann auch schon bald ein Zwischenrufer wissen. Die Adresse der Berliner Schneiderin wollen sie jedoch nicht preisgeben.
Rund anderthalb Stunden bleiben die Zitronen auf der Bühne, bieten ein fein sortiertes Potpourri mit Stücken der letzten Alben und präsentieren etliche Songs in zum Teil recht eigenwilligem Gewand, letzteres natürlich auch den etwas limitierten Möglichkeiten der Livesituation geschuldet. So wird aus „Drop the Stylist“, in der Studioversion immerhin mit Mark Stewart (ex-The Pop Group u.a.) und Ted Gaier-Gattin Melissa Logan (Chicks On Speed), aufgrund personeller Einschränkung eine zwar entschlackte, aber dadurch nicht weniger effektive und stompende Nummer.
Das Publikum selber ist, wie fast immer bei den Zitronen, spannend durchmischt: Punks, Indies, Proleten, Studenten. „Sicher alles Studenten, sonst wären sie nicht hier“, witzelt man auf der Bühne. Überhaupt zeigt sich die Band an diesem Samstagabend guter Laune, erzählt Schorsch Kamerun Lustiges, agitiert, puscht, spielt gallig, konfrontativ und ironisch mit den Klischees des Entertainers (seine Theaterausflüge u.a. Richtung Volksbühne scheinen ihm dabei wesentliche, neue Impulse gegeben zu haben), während an den Instrumenten rege Fluktuation herrscht und die Rollenverteilung der Musiker bei nahezu jedem Song wechselt. Für’s textlich etwas ernsthaftere Sujet („Des Landeshauptmann’s letzter Weg“) schnappt sich Ted Gaier das Mikro.
Und am Ende fehlte dann auch kaum ein Hit: „Wenn ich ein Turnschuh wär“, „ICE Bertold Brecht“, „Angst und Bange“, „Positionen“, „Weil wir einverstanden sind“, bevor die „Goldies aus Hamburg“ schließlich „die Erde verließen“.
Nach 25 Jahren Bandgeschichte und vereinzeltem Unken, die Gruppe wiederhole sich nur noch, sei womöglich ausgebrannt, stand fest: Zwischen Agitprop, Punk, Jazz und Elektro verstehen es die Goldenen Zitronen sehr wohl noch, sich überzeugend in Bewegung zu halten und in Szene zu setzen. Es sollte rocken und das tat es auch! Und bei den Zugaben sorgte dann spätestens „Diese Menschen sind ehrlich“ beim eher schüchternen Heidelberger Publikum für ausgelassene Pogostimmung. Sie haben’s also mal wieder geschafft. Ein spannendes Stück Hamburg. Klasse, danke!

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