Re: Bob Dylan – Modern Times

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DIE ZEIT

Die Musik spielt jetzt

Bob Dylan hat den ältesten Blues der Welt – und wirkt dabei so jung wie nie zuvor.

Von Thomas Groß

Im Internet-Fachhandel rangiert er bereits unter den Toten. Kunden, die sich die neue Bob-Dylan-CD angesehen haben, haben auch auf American V: A Hundred Highways geklickt, das Vermächtnis des Johnny Cash – kaufen Sie beide Klassiker zusammen für nur 26,90 Euro! Wie zur Bekräftigung blickt Cash dazu aus einem dieser schummerigen Schwarzweißfotos, die typisch für seine letzten Jahre sind, als er kaum noch eine Gitarre halten konnte, aber immer, wenn er sich dazu in der Lage fühlte, ins Studio fuhr, um den stetig schwächer werdenden Atem seiner Lieder eigens dafür bereitgestellten Mikrofonen anzuvertrauen: Rock ’n’ Roll als Sterbebegleitung.

So weit ist es bei Dylan gottlob noch nicht. Munter, wenngleich als Gesichtsältester tourt er auf spillerigen Beinen durch die Lande, ein Überlebender des Heldenzeitalters, den Alt und Jung gern haben müssen und können. Im Vergleich zu vermuffelten Zeiten, als er noch mit dem Ruhm haderte, strahlt er auf seine unnahbare Weise tatsächlich eine gewisse Heiterkeit aus. Dylan, der Fastolympier: Rüstig beackert er das Örgelchen, dem die vertraute Gitarre gewichen ist, es heißt, die Finger wollten nicht mehr. Manchmal klingt das Ergebnis noch nach Rock ’n’ Roll, doch dass da ein alter Mann auf der Bühne steht, ist nicht zu übersehen, und bevor das Erbe an andere fällt – die »writers and critics« etwa, denen er sein Leben lang misstraute –, scheint er entschlossen, seine Dinge selbst zu ordnen.

Modern Times heißt sein jüngstes Album, das 44. einer mittlerweile im fünften Jahrzehnt befindlichen Karriere. Wer aufgrund des Titels Innovationen erwartet, sei an dieser Stelle ausdrücklich gewarnt: Fortschritte in formaler wie inhaltlicher Hinsicht sind nicht vorgesehen, ganz im Gegenteil. Statt Zugeständnisse an die modernen Zeiten zu machen, misst Dylan sie an den Motiven und Themen, die er sich von Anfang an zu Eigen machte. Wie eh und je rollt ein archaischer Donner durch die zehn Stücke, Geister erheben sich über Wassern, und Staudämme drohen zu brechen. »I’ve already confessed, no need to confess again«: Die Zukunft war gestern, Avantgardist ist dieser Künstler nur noch in umgekehrter Richtung. 40 Jahre nachdem er den Folk elektrifizierte und zu seiner Vision von Rock umschmolz, arbeitet er sich in die Prä-Rock-’n’-Roll-Phase zurück.

Es lohnt sich wieder, Radio zu hören – mit Bob Dylan

Countryswing, Westernjazz, Folkblues sind die verhandelten Stilistiken, Unterhaltungsmusik aus Zeiten, als die amerikanische Kulturindustrie gerade im Entstehen begriffen war und das Erbe der Siedlerzeit in kleinen Studioklitschen zu neuen Formen fand. Balladen aus dem 19. Jahrhundert klingen herauf, dazu Bluesnummern und smarte Fußwipper, von der bewährten Tourband mit dem Gestus einer Feierabendkapelle vorgetragen: Nach langen Jahren auf dem Tanzboden muss nichts mehr bewiesen werden, man agiert nur noch aus dem Handgelenk. So müssen die Lieder geklungen haben, die Dylan in den Fünfzigern im Radio gehört hat, als blasser Junge aus der Provinz, der sich in die Ferne träumte. Jetzt verhält es sich umgekehrt: Der alte Mann versetzt sich in das Kind zurück, um mit dem Erfahrungsschatz seiner Wege und Irrwege auf dem Buckel beim Allerältesten anzugelangen.

Überhaupt das Radio: Bereits in No Direction Home, Martin Scorseses Dokumentation der frühen Jahre, taucht es als Wunschmaschine aus den Nebeln der Geschichte wieder auf. Dylan persönlich plauderte vor laufender Kamera seltsam entspannt von Abenden, die er vor dem Gerät verbrachte, um in den Stücken fahrender Sänger Nachrichten aus einer anderen Welt entgegenzunehmen. Seit Mai dieses Jahres hat er sich sogar zu einem Schritt entschlossen, den ihm vor kurzem noch keiner zugetraut hätte: In der Theme Time Radio Hour, ausgestrahlt über den Satellitensender XM, gibt er selbst den DJ, erzählt Anekdötchen, spielt Lieblingsplatten – und überlässt es wie immer dem Publikum, ob es diese thematisch gewichteten Sendungen einfach als interessante Abendunterhaltung nimmt oder aber als getarnte Poetikvorlesung.

Das neu erwachte Interesse an Übertragungswegen und technischen Formaten ist Teil eines Prozesses der Selbstvergewisserung, der gleichermaßen Traditionserkundung und Traditionsvermittlung darstellt. Dylan, der Erinnerungsarbeiter: In Scorceses Film tritt er in seiner Lieblingsrolle als Pokerface auf. Vor einiger Zeit hat er das Projekt der Chronicles begonnen, eine auf mehrere Folgen angelegte Biografieerzählung mit de- und remystifizierenden Zügen. Das Radio wiederum ist das Nadelöhr, durch das der Strom der Überlieferung zu ihm gelangte und den er nun mit der Geste eines heiteren Weltweisen an die Nachkommenschaft weitergibt. In ihrer Gesamtheit haben Dylans multimediale Aktivitäten etwas von einer Nachlassverwaltung zu Lebzeiten: Bevor die Biografen endgültig das Kommando übernehmen, erzählt er die alte Geschichte mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln noch einmal neu.

Nichts anderes findet auch auf Modern Times statt: Statt zwanghaft »originell« zu sein, erkundet ein Sänger Einflüsse, indem er sie als nur leicht bearbeitete Traditionstrümmer ausstellt. Wie in manchen Alterswerken der Literatur, doch mit deutlich mehr Swing ist alles Variation über längst bekannte Themen, sucht seinen Platz in der Gegenwart als Formel unter Formeln. Im Internet haben Dylanologen herausgefunden, dass nahezu jedes Bruchstück ein Zitat darstellt – aus der Bibel, aus Schlagern, aus vergessenen Filmen und anderen obskur gewordenen Quellen, die Ergebnisse sind per Mausklick abzurufen. Recht haben sie, die unberufenen Werkverwalter, und doch ist damit nur das Offensichtliche benannt: Der späte Dylan ist ein Meister der Anverwandlung. Singend verschwindet er in der Tradition, die ihn hervorgebracht hat.

»Time« ist die am häufigsten verwendete Dylan-Vokabel

Im Abschreiten der Stationen einer untergehenden Welt allerdings erweist der Columbia Recording Artist sich als souveräner Meister, dem kein Johnny Cash mit Highway-Schlagern aus der Mottenkiste das Wasser reichen kann. Ein Hauch von Zen liegt über diesen zehn Stücken: Wo alles bloß Kunstfertige in den Hintergrund tritt, wo nichts mehr gewollt wird und keine Ambition dem Vortrag in die Quere kommt, wird plötzlich alles schwerelos wie ein Gang über Wellen. Selten ist Dylan seinem erklärten Ziel, nicht selbst zu sprechen, sondern die erwählte Musik durch die Maske seiner Person Klang werden zu lassen, so nahe gekommen wie auf diesem Abgesang auf die modernen Zeiten. Und auch wenn der Gang der Dinge sich mit den Mitteln der Kunst nicht aufhalten lässt: Solange eine in transzendentaler Obdachlosigkeit geschulte Rentnerband wie diese aufspielt, kann man sich einbilden, die Zeit stünde für einen Moment still.

Time übrigens, auch das haben Auszählungen im Internet ergeben, ist die am häufigsten verwendete Dylan-Vokabel. Time Out Mind, The Times They Are A-Changing, Hard Times In New York Town, Time Passes Slowly – Zeit ist in diesen Stücken das, was vom Ballast der Historie erlöst, und zugleich das, woran man irre wird. Wie viel Zeit dem Sänger Bob Dylan noch bleibt, weiß keiner, gehört aber vorläufig nicht zu den dringlichsten Fragen. Zunächst einmal hat die Stunde der letzten Beschwörungen geschlagen. Nachdem der Kampf an der Jugendfront verloren ist, beginnt er auf neuem Terrain erst richtig.

DIE ZEIT, 31.08.2006 Nr. 36

36/2006

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