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Zum zweiten Mal bin ich nun nach Moers gereist, um eines der renommiertesten Jazzfestivals der Welt zu besuchen. Es war das Jahr eins nach dem Weggang von Festivalbegründer Burkhard Hennen nach 34 Jahren, ein neuer künstlerischer Leiter (Reiner Michalke, auch verantwortlich für das Musikprogramm im Kölner Stadtgarten) sollte nun das Programm erstellen. Ich war im Vorfeld gespannt und voller positiver Vorfreude, gestaltete sich das Line-Up dieses Jahr doch wesentlich elektrolastiger und präsentierte zudem einige Künstler aus Norwegen, ein Land welches ich musikalisch sehr schätze – nicht nur, aber besonders im Jazz. Im Folgenden möchte ich kurz meine Eindrücke vom Festival selbst, aber auch um die Geschehnisse herum berichten. Auch wenn ich bis auf zwei Ausnahmen alle Künstler im großen Zelt gesehen habe, werde ich nur auf die für mich interessanten Auftritte eingehen.
Donnerstag, 01.06.06 – Regen und musizierende Programmiersprachen
Angereist bin ich zusammen mit Freunden bereits am Donnerstagnachmittag. Schon bei der Abreise aus Köln regnete es in Strömen und die Stimmung war dementsprechend betrübt. Zum Glück lichteten sich die Wolken Richtung Niederrhein ein wenig, so konnten wir zumindest unsere Zelte im Trockenen aufbauen. Doch auch wenn der Regen nachgelassen hatte, blieb trotzdem noch die Kälte. So entschieden wir uns am Abend die Moerser Altstadt zu besuchen und uns im örtlichen Jazzclub „Die Röhre“ ein wenig aufzuwärmen. So kam es dann auch, dass wir bereits vor Festivalbeginn (offizieller Beginn war Freitagabend 18 Uhr) unser erstes Konzert an diesem Pfingstwochenende erlebten. Im Keller des Clubs spielte „Turbo Pascale“, eine Jazz/Rock-Improvisationsband aus Köln. Sie begannen famos, doch im Laufe des Abends verschossen sie mehr und mehr ihr Feuer. Trotzdem war es ein sehr entspannter Einstieg in das Festivalwochenende, und von „Turbo Pascale“ werde ich weiter unten erneut berichten können. Um 01:00 Uhr war dann bereits Nachtruhe bei mir angesagt, aber aus Erfahrung weiß ich, für Moers muss man sich seine Kräfte gut aufteilen…
Freitag, 02.06.06 – „Sco“ and I
Das Positive zunächst: Das Wetter wurde besser. Von Tag zu Tag schien mehr die Sonne und bis auf einen Platzregen ist es auch das ganze Wochenende trocken geblieben. Es galt nun einen ganzen Tag rum zu bekommen, denn wie schon geschrieben war Festivalbeginn erst um 18 Uhr. Aber als Profichiller war das natürlich für uns alle kein Problem, mit Kölsch, Musikzeitschriften und einem Fußball lässt es sich gut leben.
Um 18 Uhr war es dann soweit. Gespannt wartete das Publikum auf das, was da im Jahr eins nach Burkhard Hennen wohl kommen mag. Eröffnet wurde das Festival von einem Moderatorenpaar, welches bei mir allerdings recht unpersönlich und ohne Gefühl für die Darbietungen rüber gekommen ist. Eingangs hatte ich schon erwähnt, dass dieses Jahr der Schwerpunkt eindeutig auf elektronisch motivierter Musik lag, dass (inoffizielle) Motto war allerdings, Kollaborationen auf die Bühne zu holen, die in dieser Forum noch nie zusammen gespielt haben und damit jeden Auftritt zu etwas besonderen und einmaligen zu machen, daher kann man bei fast allen Künsterauftritten nicht von „Bands“ sprechen, sondern muss das Wort „Projekt“ verwenden. Beste Beispiele für solche ganz besonderen Zusammenspiele bilden John Scofield & Bugge Wesseltoft, Nils Petter Molvaer & Bill Laswell oder auch Jamie Lidell & Gonzales. Mehr über diese Auftritte aber weiter unten, kommen wir zunächst zum Opener:
FLY (Norwegen & Tunesien)
Das Jazzfestival begann sehr sphärisch. Der norwegische Perkussionist Terje Isungset präsentierte Klänge, die weitestgehend mit dem Fliegen assoziiert werden, dementsprechend luftig leicht wirkte der Auftritt. Sehr gefreut hat mich die Performance von Dhafer Youssef, deren Stimme ich von anderen Projekten aus der Vergangenheit bereits kannte und ich ihn nun endlich mal live erleben durfte. Heimlich still und leise spielte sich allerdings unerwartet ein anderer Musiker in mein Herz. Der Trompeter Arve Hendriksen, dieses Jahr „Artist in Residence“ (was bedeutet, dass er in mehreren Projekten vorgesehen ist), weckte bei diesem Auftritt eher am Rande mit seinem sehr fragilen Trompetenspiel meine Aufmerksamkeit, dies sollte sich aber im Laufe des Festivals noch ändern…
Marc Ducret Trio
(Frankreich)
…
Saadet Türköz „Urumchi“
(Türkei & Usbekistan)
…
John Scofield & Bugge Wesseltoft
(Norwegen & USA)
Das Wunschkollaborationen nicht unbedingt funktionieren müssen, zeigt dieser Auftritt, auf den ich mich im Vorfeld riesig gefreut habe. Bugge Wesseltoft ist für mich kein Unbekannter – im Gegenteil, ich begleite seine Musik schon seit Jahren und durfte ihn auch bereits in Köln bei einem grandiosen Konzert sehen. Nun stand er also mit John Scofield auf der Bühne, einem der anmutigsten Gittaristen der Jazzszene und durch seine Zusammenarbeit mit Miles Davis und anderen Legenden (u.a. Charles Mingus, Tony Williams oder Lee Konitz) selbst zu einem großen Namen geworden. „New Conception of Jazz“ nennt Wesseltoft seine Herangehensweise an die Musik und verwirklicht hier kompromisslos seine ganz eigene Idee vom Jazz. Das diese Idee nicht grenzenlos teilbar ist, zeigte das Zusammenspiel mit Scofield. Gespielt wurde fast ausnahmslos ein Set mit Stücken von Wesseltoft, die Scofield mit seiner Gitarre begleitete. Auch wenn sich das Ganze sehr gut anhörte, so blieb doch ein Gefühl der Unstimmigkeit, Scofield konnte die Stimmung nicht wiedergeben, die Wesseltoft versuchte zu vermitteln. Scofield ist und bleibt ein begnadeter Gitarrist, aber mich konnte er an diesem Abend nicht überzeugen.
Trotzdem war es ein gelungener Auftritt und Abschluss des ersten Festivalabends. Danach ging es zurück zum Zelt und irgendwann am frühen Morgen fand ich auch meinen Schlaf…
Samstag, 03.06.06 – Verstörtes und Verträumtes
Paris Touch
(aus aller Welt…)
Ehrlich gesagt war der Freitag musiktechnisch eher ein wenig mau. Es gab im Gegensatz zum letzten Jahr kein wirklich mitreißendes Konzerterlebnis, bei dem man mit offenem Mund dasitzt und staunt. Dies sollte sich aber schnell ändern, bereits der erste Auftritt am Samstagnachmittag war der absolute Hammer! Die sieben Musiker aus sieben verschiedenen Ländern (aber alle in Paris lebend) haben auf musikalisch sehr hohem Niveau so viel authentischen Spaß auf die Bühne gebracht, dass es fast unmöglich war sich dem Bann ihrer Musik zu entziehen. Allen voran Schlagzeuger Ari Hoenig verbreitete mit seinem Spiel so viel positive Energie, dass der Endorphinspiegel von ganz alleine anstieg.
Inhabitants
(Kanada)
Ein paar Worte zu dieser sehr interessanten Band aus Vancouver, Kanada. Es war ihr allererster Auftritt in Europa, dementsprechend schüchtern standen die vier Jungs auf der Bühne. Ihre Musik bezeichnen sie selbst als „Psychedelic Jazz“, eine Musikzeitschrift schrieb mal, ihre Musik sei der perfekte Einstieg für einen Traum. In der Tat verwenden die Inhabitants viele Ambient-Sounds, verbinden diese allerdings mit Jazzrock-Elementen. Herausragender Interpret der Band war daher auch der Bassist, der ziemlich bodenständige Blues-Rock-Basslinien in dem Raum warf, welche der Trompeter aufgriff und diese mit seinem sehr zurückhaltenden Trompetenspiel, verfremdet durch Effektgeräte, für den behutsamen Aufbau eines sphärischen Sounds als Basis nahm. Ein ganz großartiger Auftritt einer jungen Band, von der man hoffentlich demnächst mehr hören wird.
Brötzmann / Pliakas / Wertmüller
(Deutschland & Schweiz)
Machen wir es kurz, Peter Brötzmann ist mir gänzlich unsympathisch, wie eigentlich alle Walroßbart-tragende Menschen. Auch wenn Brötzmann als einer der wichtigsten Musiker der Free-Jazz-Ära angesehen wird, lässt mich sein Spiel vollkommen kalt. Sicherlich, beeindruckend war es natürlich schon, wie er zusammen mit dem recht jungen Schweizer Rhythmus-Duo Pliakas und Wertmüller von der ersten Sekunde an so viel Energie auf den Punkt gebracht hat und diese kontinuierlich fortführen und sogar steigern konnte. Dies verlangt ein sehr hohes Maß an musikalischem Verständnis und hat auf jeden Fall meinen Respekt sicher, doch trotzdem ist diese hochenergetische freie Musik nicht mein Fall. Dem Großteil des Publikums hat der Auftritt übrigens gefallen, was aber auch daran liegen mag, dass Peter Brötzmann in Moers (und nicht nur dort) aufgrund seiner engen Verbundenheit zu dem Festival eine Legende ist.
Herbert & Valerie Etienne
(GB)
Eigentlich sollte Matthew Herbert als letzer Act des Abends um 22 Uhr spielen, doch aufgrund von Anwohnerbeschwerden über die Lautstärke am Vorabend (scheiß Kleinstadtspießer…) wurde die Reihenfolge kurzfristig gedreht. So bekamen wir bereits um 20 Uhr das Vergnügen, den Sample-Gott Herbert zu hören.
Matthew Herbert war gewohnt sicher auf seinem Terrain unterwegs, zeigte allerdings diesmal sehr wenig von seiner Kunst, Geräusche von Alltagsgegenstände in Klangstrukturen zu verwandeln. Valerie Etienne, die kurzfristig die verhinderte Dani Siciliano ersetzte, brachte dazu einen souligen Gesang ein, der auch nicht unbedingt begeistern konnte. Man kann es herauslesen, eigentlich war ich enttäuscht von diesem Auftritt, denn ich hatte mir aufgrund meiner Vorkenntnisse wesentlich mehr erwartet, als nur ein paar Effekte aus dem Sampler gedreht und dazu nette unauffällige Jazz-Sounds zu spielen. Herbert, dass habe ich von Dir schon anders gesehen!
Mugison
(Island)
Singer/Songwriter ist er, der Mugison. Und aus Island ist er, der Mugison. Klingt also auf dem Papier nach melancholischer Gitarrenmusik und Textzeilen von der Weite des Meeres und der Einsamkeit und Kälte des Insellebens. Doch Pustekuchen, was Mugison und seine Mitstreiter hier performten, war alles andere als leise und nachdenklich. Die Gitarre wurde geschmettert und der Drummer haute in die Felle, als wäre er Dave Grohl persönlich (ein bisschen nach ihm aussehen tat er nämlich). Der Auftritt erinnerte mehr an einen Ryan Adams in expressiver Hochform als an einen nachdenklichen Bradly Drawn Boy, wie ich ihn erwartet hätte. Leider, und das war das alles überschattende Manko des Auftritts, war das Ganze nicht wirklich ernst gemeint, sondern anscheinend als Spaß ausgelegt. So verkam meiner Meinung nach die Performance als alberner Gag ohne Hintergrund und brachte mir das Bild der Spaßkapelle vor das geistige Auge.
Zu Mugison hatte ich mich übrigens auch schon mal in diesem Thread geäußert…
Arve Henriksen / Jan Bang / Audun Kleive
(Norwegen)
Aufgrund der eben angesprochenen Lärmregulierung gebührte nun Arve Henriksen die Ehre, den letzten Auftritt des Abends zu gestalten. Henriksens Trompetenspiel, welches mir schon den Tag davor aufgefallen war, entfaltete sich hier nun in seiner ganzen Schönheit. Seine Musik erinnert an Melodien aus dem fernen Osten, wobei doch eigentlich die Trompete ein eher untypisches Instrument zu Darbietung dieser Klänge ist. Wie schon weiter oben angedeutet, zeichnet sich Henriksens Trompetenspiel durch eine Zerbrechlichkeit aus, bei dem jeder Ton bewusst gesetzt ist, und viele andere Töne, die eigentlich da sein könnten, weggelassen werden. So wird aus Henriksens Spiel eine Kunst des Minimalistischen, ja des Weglassens. Möge doch der Zuschauer sich selbst seine Töne dazu weiterdenken. Mit etwas Verärgerung muss ich allerdings schreiben, dass dieses sicherlich absolut großartige Konzert durch seine späte Aufführung (es war ca. 23 Uhr, als es begann) und meine nicht mehr ganz so vorhandene Aufmerksamkeit (warum haben wir am Abend vorher bloß soviel Alkohol getrunken?) ein wenig an mir vorbei ging. Der ursprünglich vorgesehene Platz im Line-Up wäre perfekt gewesen, aber diese späte Stunde galt nun mehr der Meditation denn des Tanzens.
Sonntag, 04.06.06 – eine lange Nacht und aurale Orgasmen…
United Women’s Orchestra feat Michael Schiefel
(Deutschland & Niederlande)
Uff, Big-Band-Jazz, wenn das man gut geht. Bereits im letzten Jahr habe ich die Erfahrung machen müssen, dass eine solch große Formation recht anstrengend werden kann. Sie wurde dann zum Glück nicht anstrengend. Vielleicht lag es daran, dass diese Big-Band nur aus Frauen besteht und diese ein anderes Gefühl für Zusammenspiel haben, vielleicht lag es aber auch einfach an Michael Schiefel. Der Gast-Vokalist zog fast meine gesamte Aufmerksamkeit auf mich mit seiner sehr interessanten Technik, seine Stimme als Ersatz für Rhythmus-Instrumente (Bass und Perkussion) zu benutzen. Das war es dann aber auch schon, kein Auftritt der mir ewig in Erinnerung bleiben wird…
Pop Ivan
(Ungarn)
…
Molvaer / Laswell / Aarset / Drake / Dieng
(Norwegen, USA, Senegal)
Habe ich mit Wesseltoft / Scofield noch ein Beispiel bringen können, wie Kollaborationen nicht funktionieren, habe ich hier nun das Gegenbeispiel. Einfach Wahnsinn, was Molvaer und Laswell hier zusammen auf die Bühne gebracht haben. Molvaer, bekannt für sein sehr zurückhaltendes, ja klagendes Trompetenspiel fand in Laswell einen kongenialen Partner, der ihn nicht – wie viele andere Musiker bei anderen Molvaer-Kollaborationen – in seinem Spiel unterstützte, sondern mit seinem Bassspiel voll auf Contra ging und so die perfekte Symbiose zwischen zwei Welten schuf. Trip-Hop-artige Basslinien, scheinbar aus der Hüfte geschossen, trafen auf ein konzentriertes und vorsichtiges Trompetenspiel. Es war das erste Mal auf diesem Festival, dass mir die Qualität einer musikalischen Darbietung so bewusst geworden ist. Ganz großes Tennis!
Jamie Lidell, Gonzales & Mocky
(GB & Kanada)
Im Vorfeld hatte ich mir diesen Act im Festivalprogramm ganz dick angestrichen, dieses Konzert war von mir mit der größten Vorfreude erwartet worden. Ich wurde nicht enttäuscht, neben Gonzales (bitte nicht verwechseln mit José Gonzales) brachte Lidell überraschenderweise auch noch mit Mocky einen weiteren Kumpel aus der Berliner Szene mit, wo ja auch Lidell und Gonzales unterwegs sind. Wer die Namen schon mal gelesen hat, mag denken es liege ein Techno-Rave vor ihm, aber davon war man an dem Abend weit entfernt. Soul war angesagt, zur Darbietung standen die Songs aus Lidells aktuellem Album „Multiply“. Lidell sampelte auf der Bühne seine eigene Stimme, unterlegte sie mit Effekten und Technobeats und als die Soundstruktur fertig gestellt war, sang er mit einer unglaublich guten Soulstimme seine Songs dazu. Es war unglaublich, wie Techno-Beats, Jazzpiano und Soulstimme zueinander passen können. Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht, dieser Auftritt war definitiv mein persönliches Highlight des Festivalprogramms. Selten erfüllen mich Konzerte mit euphorisierenden Glücksgefühlen – dieses hat es getan!
Matana Roberts „CoinCoin“
(USA)
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Balkan Beat Box
(Israel, USA)
“Stühle raus!” skandierte das junge Publikum im Saal, denn man wusste was jetzt kommen wird. Der Veranstalter wusste es anscheinend nicht, und so blieben die Stühle an ihren Plätzen, eine sehr ungeschickte und nicht nachzuvollziehende Aktion. So wich man zum Tanzen halt an die Seiten aus, was zum Nachteil hatte, dass der Sound hier ziemlich mies war. Egal, die Balkan Beat Box war da, Party, koste es was es wolle. Ihr Beat, irgendwo zwischen Reggae und Grime, aufgeladen mit zwei Saxophonen und einer energetischen Stimme, garniert mit einer sehr unterhaltsamen VJ-Performance brachte den Saal zum toben. Es wurde getanzt was das Zeug hält und der einstündige Auftritt verschwand wie im Fluge. Man ging gut gelaunt aus dem Festivalzelt und war bereit für weitere Taten, die von unserer Crew auch nun folgen sollten:
The Night
Erstmalig in Moers haben die Veranstalter nach dem offiziellen Festivalprogramm auch für Unterhaltung in der Nacht gesorgt. Es gab in diversen „Clubs“ (naja, eigentlich waren es mehr Kneipen) Livemusik und Tanzprogramm im Angebot. An diesem Sonntag beschlossen wir, dieses Angebot mal anzunehmen und sind in den nahe gelegenen Irish Pub geschlendert. Nicht ohne Grund haben wir uns diesen Ort ausgesucht, denn hier spielte gerade die lebende Legende der Heimorgel, Mambo Kurt himself. Es war eine willkommene Abwechslung zum hochanspruchsvollen Festivalprogramm und eine gute Gelegenheit, um wieder auf den Boden zurückzukommen. „Sunshine Reggae“, „Paradise City“, „Insomnia“ und „Rock your Body“ im Mamborhythmus auf einer fiesen Heimorgel, unterlegt mit billigen Drumpatterns, die selbst für Handy-Klingeltöne nichts taugen würden. Ach was hatten wir einen Spaß, und als Mambo Kurt doch tatsächlich bei einem Zuschauerkreis von 40 Leuten zum Stage Diving ansetzte, war die Stimmung auf dem Höhepunkt.
Danach gingen wir weiter in die „Röhre“, welche wir ja bereits am Donnerstagabend besucht hatten. Hier waren wieder „Turbo Pascale“ am Werk, diesmal begleitet von Arve Hendriksen. Und jetzt Achtung: Was sich hier im Keller einer Kleinstadt-Jazzkneipe abspielte war wohl das Intensivste, was ich bisher jemals live an Musik gehört habe, ehrlich. Ich saß auf dem Boden, zwei Meter von der sehr kleinen Bühne entfernt und hatte die Band (und vor allem my man Arve!) direkt vor mir. War ich am Donnerstag von „Turbo Pascale“ noch nicht so überzeugt, spielten die Jungs aus Köln an diesem Abend 10x besser. Vielleicht waren sie angespornt durch Arve Henriksen, der sich an diesem Abend als wahrer Meister der Improvisation entpuppte. Auf jeden Fall spielten die insgesamt fünf Musiker hier bis drei Uhr nachts eine derart dicht verwobene und trotzdem federleichte Musik, dass sich ständig meine Mundwinkel von ganz alleine nach oben zogen. Diese Musik setzte bei mir derart Glücksgefühle frei, ich sage es war besser als Sex! Später, als ich zurück an die Theke ging, unterhielt sich gerade dagobert mit Pete Schmitt (dem Bassisten der Inhabitants) und musste ihn auch noch mal für dessen Bassperformance loben. Die Röhre entpuppte sich sowieso als Schmelztiegel aller möglichen Festivalteilnehmer und so unterhielten sich dago und ich später noch mit einem Journalisten vom Heise-Verlag (Telepolis) und philosophierten über die Veränderungen des Festivals gegenüber dem Vorjahr und gerieten dabei bei dem Namen Brötzmann in eine kleine Diskussion. Wer konnte denn auch ahnen, dass sich hinter einem harmlosen Journalisten eines Computerzeitschriften-Verlages ein Hardcore-Brötzmann-Fan versteckte… Ok, irgendwann bekamen wir dann nichts mehr zu trinken in dem Laden und so ging es zurück zum Zeltplatz. Irgendwann um halb acht Uhr morgens bin ich dann auch ins Zelt gekommen.
Montag, 05.06.06 – The day after…
Diese verdammten Jesus Freaks! Müssen die denn so früh am Morgen ihre Morgenandacht mit schlecht gespieltem Hard-Rock durchführen? Auch wenn man bei unseren Zeltnachbarn immer frischen Kaffee kostenlos bekommen konnte, so gingen mir deren sehr skurrilen (und viel zu frühen!!) „Gottesdienste“ doch ein wenig auf den Senkel. So war dann nach knapp zwei Stunden Schlaf schon wieder Aufstehen angesagt, na dass wird ein Spaß heute…
Cologne Contemporary Jazz Orchestra plays „Slayer“
(Deutschland)
Irgendwie hatte ich mir im Vorfeld schon gedacht, dass die Kombination aus Jazz und Thrash-Metal grottenlangweilig ist. War es dann auch, am unterhaltsamsten war noch die Ansage der Songtitel, denn „Spill of Blood“ oder „Angel of Death“ hört man ja eher selten von einem Big-Band-Leiter angekündigt.
Stefan Bauer „Voyage“ remembering Christoph Eidens
(Deutschland & USA)
…
Scorch Thing
(Finnland, Schweden & Norwegen)
…
Susanna & The Magical Orchestra feat. Arve Hendriksen
(Norwegen)
…
Dewey Redman Quartett
(USA & Italien)
Als krönenden Abschluss gab es noch mal mit Dewey Redman einen hochkarätigen, stilbildenden Saxophonisten zu hören. Ihn zu hören war auch der Grund, weshalb ich so lange durchgehalten habe. Ich habe zwar auch die vorherigen Konzerte alle gehört, doch irgendwie war ich da nicht ganz bei der Sache… Dewey Redman nun also, dieser große Name des Jazz und zudem Vater des von mir sehr geschätzten Saxophonisten Joshua Redman. Ich habe in den vergangenen vier Tagen eine Menge Saxophonisten gehört und sie alle waren weiß Gott keine Anfänger, aber trotzdem gibt es da noch einen Unterschied zu Redman. Er spielt so locker und unvermittelt, als wäre es das einfachste der Welt, ein Saxophon zu beherrschen, und genau hier liegt meines Erachtens nach dieser Unterschied von einem sehr guten Saxophonisten zu einem Dewey Redman. Es ist nicht die Technik die entscheidet, sondern das Gefühl zum Instrument, die einen so groß werden lässt. Mit dieser Erkenntnis und Redmans Interpretation von Ellingtons „Take the ‚A‘ Train“ endete für mich dann das Moers Festival, kein euphorischer Abschluss aber ein würdiger.
Fazit
Insgesamt war das Moers Festival wieder mal ein voller Erfolg. Auch wenn mir einige Acts nicht gefielen, habe ich sehr viele intensive Glücksmomente erlebt (mit einem Höhepunkt bei der Improvisations-Session in dem Jazzkeller) und konnte meinen Musikhorizont wieder mal erweitern. Ich habe Arve Hendriksen für mich entdeckt und mit Molvaer / Laswell und Lidell / Gonzales / Mocky Kollaborationen erlebt, die man sicherlich so schnell nicht wieder sehen wird. Auch das Leben neben dem Festival war sehr spaßig und voller Erlebnisse und ich bin immer wieder erstaunt, wie friedlich es auf dem Zeltplatz zugeht, obwohl dort doch sehr viele unterschiedliche Subkulturen aufeinander treffen. Die Veranstalter können für nächstes Jahr sicherlich noch einiges lernen, z.B. bei tanzbaren Acts die Stühle rauszuschaffen oder Moderatoren zu engagieren, die ein wenig mehr Herzblut für das Festival mitbringen.
Ich trauere bereits jetzt, dass ich nächstes Jahr wahrscheinlich aus Termingründen nicht dabei sein kann, denn Moers gibt einem immer wieder eine Begeisterung für Musik, wie man sie sonst kaum erleben kann.
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You can't fool the flat man!