Re: Die Gitarre im Jazz

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gypsy-tail-wind
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Der Tal Farlow Link oben geht nicht mehr – hier eine andere (oder dieselbe, umgezogene?) Seite:
http://homepage.ntlworld.com/nobad/tf/talfarlow.htm

Höre gerade zum ersten Mal seit bestimmt zehn Jahren wieder „Telephone“, das 1984 live aufgenommene Duo-Album von Ron Carter & Jim Hall – ganz wunderbare Musik!
Eine wirklich brauchbare Diskographie scheint online nicht zu existieren, nur das hier, dafür hat Hall gleich zwei miteinander verlinkte Websites: Jim Hall Music und Jim Hall Jazz.
Vor einiger Zeit hiess es, Hall habe Konzerte absagen müssen aus gesundheitlichen Gründen – allerdings spielt er in den nächsten Tagen u.a. ein Konzert mit Sonny Rollins, man scheint also vorderhand keine grosse Angst um ihn haben zu müssen… oder er tritt spielend auf der Bühne ab irgendwann ;-)
Egal… wir werden’s ja früher oder später erleben müssen, daher sei er hier jetzt schon mal gewürdigt!

Hall kam 1930 in Buffalo, NY zur Welt, schloss 1955 am Cleveland Institute of Music sein Studium ab und zog im selben Jahr nach Los Angeles, wo er bald bei Chico Hamilton unterkam. Ein Album entstand mit dem Chico Hamilton Trio (teilweise mit Halls Vorgänger Howard Roberts), es folgten die wunderbaren Aufnahmen des ersten Chico Hamilton Quintets (mit Buddy Collette, Dick Katz und Carson Smith) und weitere Alben unter der Leitung von Collette, Jack Montrose, Lennie Niehaus, Teddy Charles und Hampton Hawes. 1956 enstand auch das bemerkenswerte Album Great Encounter: John Lewis und Percy Heath trafen auf Bill Perkins, Hall und Hamilton.
Ein erstes eigenes Album entstand 1957: Jazz Guitar – kein bescheidener Titel, aber es handelt sich dabei auch um einen der grossen Klassiker in Sachen Jazz-Gitarre! Begleitet wurde Hall von Carl Perkins (p) und Red Mitchell (b). Die Publikationsgeschichte dieses Albums ist chaotisch – Dick Bock, der Produzent von Pacific Jazz, ist ja leider für fragwürdiges Editieren wohlbekannt. Auf der ersten Fassung fehlte „Too Close for Comfort“, auf der zweiten zusätzlich auch noch „This Is Always“ und diverse Titel wurden geschnitten (Piano und Bass Soli entfernt – was natürlich grad bei Perkins sehr schade ist). Die Pacific Jazz CD von 1988 enthielt dann „Too Close…“ aber „This Is Always“ fehlte immer noch. Ich glaub ausnahmsweise ist es tatsächlich die CD von Gambit, die unter dem Titel The Complete Jazz Guitar neben unsinnigen Bonus Tracks (von Sessions mit John Lewis, 1956, 1957 und 1960) die vollständigste Version der Session zu hören erlaubt (sie behaupten, die Stücke seien zum ersten Mal „in their original unedited form“ zu hören – ich würde meine Hand aber nicht drauf verwetten).
Egal, die Musik ist ganz wunderbar! Hall hat einen klaren Ton und spielt mit einem sanften Anschlag singende Linien. Perkins ist immer eine Freude zu hören, und Mitchell spielt sowohl virtuose Soli als auch tolle Begleitung.
1957 verliess Hall die Gruppe von Hamilton (John Pisano, ein anderer viel zu wenig bekannter Gitarrist folgte ihm) und stiess zum Jimmy Giuffre Trio (mit dem Bassisten Ralph Peña). Die Gruppe nahm für Atlantic einige Alben auf, das bekannteste davon ist wohl The Jimmy Giuffre 3 – eine Art „weisse“ und rurale Version von Horace Silvers urbanem Funk, eine ganz eigene Sorte von Roots-Musik, sehr geerdet und stets swingend. Mit Giuffres ganzem Trio nahm Hall auch an den Aufnahmen zu Bob Brookmeyers Traditionalism Revisited teil – ein Konzept-Album, in dem Jazz Klassiker neu interpretiert wurden, mit tollen Beiträgen des Leaders, Giuffres und Halls. Die Zusammenabeit mit Brookmeyer dauerte an, es folgte Kansas City Revisited mit Al Cohn, Paul Quinichette, Nat Pierce u.a. und neben Jimmy Raney spielte Hall auch auf Brookmeyers Street Swingers. Dieser hatte in der Zwischenzeit den Bassisten in Giuffres Trio ersetzt, es entstanden weitere Atlantic Alben mit dieser ungewöhnlichen Besetzung: Trav’lin‘ Light und Western Suite.
Mit Hampton Hawes nahm Hall die All Night Session auf, daneben erschien er u.a. auf Alben von Zoot Sims, Ruby Braff, Lambert Hendricks & Ross, Ben Webster (das wunderbare At The Renaissance mit Jimmy Rowles) und Stan Getz, und er begleite die grosse Fitzgerald auf Ella in Berlin. Mit Giuffre entstanden dann in konventionellerer Quartett-Besetzung (JG/JH/b/d) für Verve noch 7 Pieces und In Person (der Bassist auf letzterem übrigens Buell Neidlinger).
1959 begann auch die Zusammenarbeit mit Paul Desmond, dem Altsaxophonisten mit dem Sound, der wie ein Dry Martini klingt… Hall war als Sideman in diesen Jahren um 1960 enorm gefragt, er spielte mit Nat Adderley, Stan Getz, Red Mitchell und auf weiteren Alben von Brookmeyer und John Lewis.
Ab 1962 entstanden für RCA eine Reihe wunderbarer Alben mit Desmond, Desmond Blue, Take Ten, Glad to Be Unhappy, Bossa Antigua, sowie das Desmond/Mulligan Album Two of a Mind. Zur selben Zeit begann Halls Zusammenarbeit mit Sonny Rollins, der in diesen Jahren auf für RCA aufnahm. Hall ist auf dem Comeback-Album The Bridge sowie dem Nachfolger What’s New sowie auf einigen späteren Sessions zu hören (besonders herausragend Sonny Rollins Interpretation von Trav’lin‘ Light).

Hall nahm auch zwei Duo-Alben mit Bill Evans auf, Undercurrent (United Artists) und Interpolation (Verve) und spielte 1963/64 auf drei der schönsten Alben von Art Farmer mit, die im Quartett entstanden – Hall war der ideale Gitarrist für solche kargen Besetzungen. Die Alben: Interaction, Live at the Half Note und To Sweden with Love.
Sein Spektrum schien sich dabei nach wie vor zu erweitern: von Roy Orbison bis Quincy Jones, von Nancy Wilson zu Lee Konitz… Hall spielte auf Herbie Hancocks Soundtrack zu Antonionis Klassiker Blow Up, nahm 1972 das erste Duo-Album mit Ron Carter auf, Alone Together und dann 1975 für CTI eins seiner schönsten Alben überhaupt, Concierto mit Chet Baker, Paul Desmond, Roland Hanna, Carter und Steve Gadd. Das Herzstück des Albums ist Don Sebeskys Arrangement von Joaquin Rodrigos „Concierto de Aranjuez“ (an das sich zuvor auch schon Miles Davis und Gil Evans gewagt hatten). Daneben hört man Cole Porter, Ellington und Originals von Hall. Im selben Jahr enstand in Berlin ein Live-Album für MPS, im Trio mit Jimmy Woode und Daniel Humair.
Im Jahr darauf wurde für A&M Live! eingespielt, ein weiteres Highlight aus Halls Karriere, im Trio mit Don Thompson und Terry Clarke. Hall nahm u.a. auch mit Itzhak Perlman/André Previn, Ornette Coleman und dem Kronos Quartet auf und begann in den 80ern eine längere Zusammenarbeit mit Michel Petrucciani – am eindrücklichsten zu hören wohl auf dessen Power of Three (Blue Note 1986, der dritte im Bunde ist Wayne Shorter, das Konzert erschien auch auf DVD).
In jüngerer Zeit enstand u.a. ein Duo-Album mit Pat Metheny (der übrigens einiges von Hall gelernt hat!) und auch ein paar schöne Alben für TelArt, darunter Grand Slam: Live at the Regattabar mit Joe Lovano und Dialogues mit den Gästen Tom Harrell, Joe Lovano, Bill Frisell, Mike Stern und Gil Goldstein.


In den letzten Jahren war Hall oft im Duo oder Quartett mit dem Pianisten Geoff Keezer unterwegs. Dass er kürzlich ein Konzert mit Sonny Rollins gab (am Abend davor spielte Hall mit seinem Quartett mit Greg Osby, Joey Baron und Scott Colley) lässt mich hoffen, dass Rollins vielleicht mal wieder mit angemessener Begleitung etwas aufnimmt? Wäre natürlich ganz wunderbar, wenn’s von Hall und Rollins (vielleicht mit Roy Haynes?) was neues zu hören gäbe!

Für mich gehört Hall zu den ganz Grossen, auch wenn sein eigenes Werk als Leader verstreut ist. Die Bands von Hamilton und Giuffre, die Alben von Farmer, Rollins und Desmond – das fügt sich zu einem aussergewöhnlichen Werk zusammen!

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