Re: Alles Geschmacksache?

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ah-um

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Die endgültige Checkliste zur Beurteilung von Popmusik

Im Ernst: Vieles davon sind ausgesprochene Binsen. Und die meisten Fragen bleiben sowieso offen. Das Ganze ist mehr ein Versuch der Annäherung und der Systematisierung. Kritik ist erwünscht.

Originalität
Es scheint ein unausgesprochener Konsens zu bestehen, dass gute Popmusik irgendwie neu, kreativ, erfindungsreich, eigenständig, am besten sogar überraschend zu sein hat. „Traditionsgemäßheit“ ist eher ein Schimpfwort. Meist werden Kritiker schon ungeduldig, wenn das zweite Werk einer Band dem ersten zu ähnlich ist.
Wer sich bei häufig verwendeten Formeln bedient, sollte dies mit einem ironischen Unterton tun, um nicht der Klischeehaftigkeit geziehen zu werden. Oder einfach lange genug warten bis die alten Floskeln wieder schick sind und als jüngste Retro-Welle durchgehen.
Bei der Abgrenzung des Neuerers vom Epigonen bedarf es natürlich einer möglichst großen Kenntnis des bisher Dagewesenen. Hier hat der Experte seinen Auftritt.

Individualität
Es gibt wohl kaum ein größeres Lob für einem Popmusiker als die Bescheinigung, er klinge „wie sonst niemand“.
Man erwartet in der Regel, dass sich in der Musik die authentische Persönlichkeit des Künstlers wiederspiegelt. Die Popmusik hängt sozusagen einem verschärften romantischen Geniekult an, der zumeist weder thematisiert noch in Frage gestellt wird.

Harmonik, Rhythmus
Klare Regeln gibt es hier wohl keine, aber die Tendenz geht insgesamt eher zur Einfachheit.
Vereinzelte überraschende Wendungen werden gerne gesehen. Wer es jedoch übertreibt, gerät schnell in den Verdacht, verschwurbelte Kunst-Kacke zu produzieren.

Melodie, hooks
Nach Auffassung der Meisten sollte Popmusik etwas haben, das unproblematisch ins Ohr geht.
Zu große Aufdringlichkeit gilt dabei jedoch als unfein und platt, der bewusste Verzicht als verschroben und elitär (oder wahlweise als genial).
Allerdings sind auch Fälle bekannt, in denen gerade die Abwesenheit von Fingerspitzengefühl als besonders ausdrucksstark oder kultig angesehen wird.

Sound, Texturen
Ein Merkmal der Popmusik ist, dass die Möglichkeiten der Studiotechnik sehr frei und bewusst manipulativ als Gestaltungsmittel eingesetzt werden. Man erwartet dies geradezu und bezieht die Arbeit der Produzenten und Tontechniker in die künstlerische Bewertung mit ein. Regeln für den „richtigen“ Sound gibt es wohl keine, allenfalls bestimmte genrespezifische Erwartungen. Je nach Einzelfall werden sowohl dickes Auftragen wie auch skelettierter Lo-Fi-Sound goutiert.

technisches Können
Wie überall gilt: Der Virtuose wird bewundert; aber Virtuosität ist kein Selbstzweck, sondern sollte dem künstlerischen Ausdruck dienen.
In bestimmten Genres wird technisches Können sogar als überflüssig, ja hinderlich angesehen und demonstrativer Dilettantismus als Stilmittel eingesetzt.

Texte
Texte sollten gut sein. Ob sie das sind, ist keine spezifisch musikalische Frage. Doch viele Texte von Popsongs funktionieren nur in ihrem Kontext, und allein darauf kommt es an.

gesellschaftliche/politische Relevanz
Es dürfte umstritten sein, ob Pop die Aufgabe hat, gesellschaftliche Realitäten darzustellen und zu kommentieren. Wie überall findet sich in der Popmusik die ganze Bandbreite vom fundamentalistischen Eiferer bis zum reinen l’art-pour-l’art-Standpunkt. Ein Qualitätsmerkmal ist damit sicher nicht verbunden.

Ausdruck
Je weniger die bisher genannten Kriterien eine klare Leitlinie vorgeben, desto wichtiger wird die emotionale Ausdruckskraft des Musikers. Und diese ist naturgemäß sehr schwer objektiv zu bewerten.
Was den Einen zu Tränen rührt, mag ein Anderer als hohl und vordergründig empfinden. Der Grund dafür liegt nicht oft nicht in unterschiedlicher Beurteilungskompetenz, sondern einfach in unterschiedlichen psychischen Prädispositionen verschiedener Hörer.
Vielfältig sind auch die Wege zum Erreichen der Ausdruckskraft: Zwischen maximaler Zurückhaltung und völlig entgrenzter Hingabe ist alles denkbar und zugelassen. Besonders beliebt macht sich, wer mehrschichtige oder gar widersprüchliche Gefühlslagen auszudrücken versteht.
Es ist geradezu ein Stilmerkmal der Popmusik, dass traditionelle belastbare Kriterien wie Harmonik oder Spieltechnik an Bedeutung verlieren und sich der emotionale Gehalt stark in den Vordergrund schiebt. Dies ist wohl auch der Grund für die Zugänglichkeit und Popularität dieser Musik.
Neben Originalität/Individualität ist „Ausdruckskraft“ wohl die am öftesten abgefragte Kardinaltugend von Popmusik.

Attitüde
Popmusik dient jedenfalls seit dem Aufkommen des Rock’n’Roll als Mittel der Abgrenzung und Gruppenbildung unter Jugendlichen.
„Meine Band ist cooler als deine“ ist zwar kein Argument, in seiner Wirkungskraft jedoch nicht zu unterschätzen. Und diese „Coolness“ vermittelt sich nur zum Teil durch die Musik selbst. Es geht um die Haltung der Künstler und ihre (Selbst-)Darstellung.
Man wird Popmusik ohne die durch sie vermittelte Attitüde nicht verstehen. Nicht zuletzt sie entscheidet darüber, wer welche Band gut findet oder nicht.

Bei alledem bleibt stets zu bedenken: Die Musik ist immer an denjenigen Maßstäben zu messen, die ihr selbst immanent sind. Am Anfang steht die Frage „Was hat der Künstler gewollt?“

Selbstverständlich verbleiben eine Menge Differenzen. Schließlich sind am Vorgang des Hörens Millionen von Nervenzellen beteiligt. Und deren Verschaltung ist bei keinen zwei Menschen je identisch.

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There is a crack in everything; that's how the light gets in. (Leonard Cohen)