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Wenn alles Geschmackssache wäre, gäbe es keinen Raum für Diskussionen; dann könnte man nur noch „Ich mag es“ oder „Ich mag es nicht“ sagen. Für andere interessant wird es erst, wenn man sich bewusst zu machen versucht, WAS man da mag oder nicht mag. „Geschmack“ ist außerdem zweideutig: Zum einen meint man damit Vorlieben und Hörgewohnheiten, zum anderen ein Unterscheidungsvermögen. „Guter Geschmack“ heißt, das gut Gemachte vom schlecht Gemachten und das Passende vom Unpassenden unterscheiden zu können. Er entsteht durch Erfahrung – dadurch, dass man sich Vieles aufmerksam anhört – und ist auch noch genrespezifisch: Wer etwas von Countrymusik versteht, versteht noch lange nichts von Ambient Techno oder HipHop. „Geschmack“ zu haben heißt auch, sich nicht manipulieren zu lassen. Musik kann einen zum Weinen bringen, aber es ist nicht gut, wenn sie heftig „auf die Tränendrüse drückt“, wenn sie es manipulativ darauf anlegt. Erhabene (oder auch virtuose) Musik kann beeindrucken, aber wenn sie hörbar beeindrucken SOLL – ist man als erfahrener Hörer eben nicht beeindruckt. Musik kann starke Wirkungen haben, aber wenn sie es zu sehr darauf anlegt, ist sie effekthascherisch und nicht gut.
Wie otis oben schon geschrieben hat, gibt es keine allgemeinen Kriterien, die man immer anwenden könnte. Es kommt immer darauf an, was der jeweilige Song oder der jeweilige künstlerische Zweck verlangt. „Komplexität“ und „Abwechslungsreichtum“ zum Beispiel können eine gute Sache sein, sind aber nicht notwendig. Minimalismus, Monotonie und Wiederholung (die drei R: Repetition, Repetition, Repetition) können auch ganz toll sein (manche Krautrocker sind durch die Stumpfheit hindurch zur „chromblitzenden Brillianz“ gelangt, stand vor kurzem irgendwo im RS). Komplexer ist nicht notwendigerweise gleich besser. Ein einfaches Stück ist mitunter schlicht schön, ein komplexes verschwurbelt, „bloß clever“ oder überladen. Fünf Akkorde sind nicht besser als zwei. Dass Musiker „gut spielen“ können spricht auch nicht per se für oder gegen die Musik, die sie machen. Handwerkliche Fertigkeiten sind ein Vorteil, wenn man sie klug einzusetzen weiß, aber auch geniale Dilettanten machen tolle Musik, wenn sie inspiriert sind und gute Ideen haben. Der Originalität kann es sogar förderlich sein, wenn man sich nicht auf eingeübte Licks zurückziehen kann. Usw.
Man muss sich halt erst einmal auf die jeweilige Aufnahme einlassen, ihrer inneren Logik nachspüren (nein, ich mache das auch nicht immer, aber ich halte es für eine gute Maxime). Bei einem Tanzstück z.B. liegen die Qualitäten vor allem im Rhythmischen. Wenn der Rhythmus gut ist, fehlt nicht mehr viel, dass der Track gut ist. Das angemessene „Rezeptionsverhalten“ besteht darin, sich zur Musik zu bewegen. Das Tanzstück kann nichts dafür, wenn der Hörer nicht tanzen will und grummelig sitzen bleibt und auf die nächste „schöne Melodie“ wartet…
Abstrakt gesprochen, kann man frei nach Goethe immer fragen: 1) Was hat der Künstler sich vorgenommen? 2) Ist dieser Vorsatz vernünftig und verständig, befürwortet man ihn oder lehnt man ihn ab? 3) Wie gut ist es gelungen, den Vorsatz auszuführen?
Having said that, kommt es auch mir am Ende des Tages vor allem anderen darauf an, dass die Musik in mir Gefühle weckt – dann liebe ich sie, andernfalls schätze ich sie bloß.
Jeder wendet irgendwelche Kriterien an und bewertet die Musik auf dieser Grundlage; das können ja ganz einfache sein (für manchen soll es z.B. am liebsten „angenehm“ klingen, nicht „nerven“, nicht mit Lärm und Geräusch verbunden sein usw. – der mag dann vieles von dem nicht, was ich so höre…). Wenn diese Kriterien überhaupt nicht zu der Musik, ihrer Eigenlogik, passen, die da gerade gehört wird, kann man so begründete Urteile „geschmäcklerisch“ nennen.
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To Hell with Poverty