Re: Birdseys Rezensionen

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dominick-birdsey
Birdcore

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Johann Wolfgang von Goethe ist ein liebender Mann. Mit seinen 74 Jahren verliebt sich der Geheimrat in die 55 Jahre jüngere Ulrike von Levetzow. In Marienbad erliegt er dem Charme der „Contresse“, wie die Älteste der drei Levetzow-Schwestern scherzhaft genannt wird. Goethe ist sich der Problematik des Altersunterschiedes durchaus bewusst, dennoch sieht er über gesellschaftliche Bedenken hinweg und erwägt eine Hochzeit.

Martin Walser vermischt in seinem neuen Roman, ähnlich wie der oscarpreisgekrönte Film „Shakespeare in Love“, sowohl historische Wirklichkeit mit Goethes Werken als auch mit eigener Fiktion – und bleibt dabei dennoch aktuell. Ein ähnliches Thema hat zuletzt Philip Roth in seinem Roman „Exit: Ghost“ aufgegriffen: die Liebe eines älteren Mannes zu einer deutlich jüngeren Frau. Während dies bei Roth nur ein Teilaspekt bleibt, fußt Walsers komplette Erzählung auf dem Sujet. Dass das funktioniert, liegt an der Sprache Walsers, der glücklicherweise gar nicht erst versucht, Goethe nachzuahmen.

Gerade die Gratwanderung zwischen Humor und Tragik zieht den Leser in den Bann: Auf der einen Seite ist es komisch, wenn Goethes Diener Stadelmann dessen Haare verkauft, während auf der andere Seite die Verzweiflung an seinem Verliebtsein Goethe dazu führt, seine berühmte „Marienbader Elegie“ zu schreiben. Ihre Spannung erlangt die Handlung durch die Frage, ob Ulrike nicht doch dem namenlosen Nebenbuhler erliegt. Die Erzählung gelingt solange, bis sich der Autor entschließt, die Werther-Anleihen zu überstrapazieren und zum Stilmittel des Briefromans zu greifen. Aber auch der zotige letzte Absatz des Buches ändert nichts daran, dass „Ein liebender Mann“ einer der besten Romane von Martin Walser ist.

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