Re: MTV früher/heute

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bullitt

Registriert seit: 06.01.2003

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Habe gerade dieses interessante Interview mit Ray Cokes gelesen. Klingt zwar stellenweise etwas verbittert aber mal abgesehen von seinen persönlichen Kränkungen finde ich seine Einschätzung des Stellenwertes von „Most Wanted“ und dem gesamten europäischen MTVs sehr treffend. Die Regionalisierung MTVs war damals aus ökonomischer Sicht sicher nachvollziebar, weil man sich gegen VIVA positionieren musste und für deutsche Musiker war es der Beginn einer ganz neuen Ära aber als Konsument empfinde ich den Verlust des europäischen MTVs rückblickend zunehmend bedauerlicher. Nie wieder tauchten in einer solchen Regelmäßigkeit so viele unterschiedliche internationale Stars aus allen Genres live im TV auf. Nicht auszudenken wer in den letzten 10 Jahren alles auf der Bühne im Most Wanted Studio hätte performen können

Von dem Desaster in Hamburg wusste ich gar nichts. Mir war auch neu, dass Cokes anfangs noch im deutschen Ableger eingesetzt wurde. Hat das jemand mitbekommen?

Hier der von Cokes im Intervies erwähnte Auftritt mit The Cure.

„MTV ist voll von dämlichen Datingshows“
Moderator Ray Cokes über die Kultsendung „Most Wanted“, seinen flotten Abgang und den Bedeutungsverlust des Musiksenders

Heute vor 25 Jahren ging MTV in Los Angeles auf Sendung. Beim hiesigen Ableger MTV Europe wurde Ray Cokes mit seiner Show „Most Wanted“ zur Moderatoren-Legende, bis er vor zehn Jahren im Streit das Handtuch warf. Anlässlich des Jubiläums hat Katja Schwemmers mit ihm gesprochen.

DIE WELT: Mr. Cokes, wann haben Sie das letzte Mal MTV geguckt?

Ray Cokes: Das ist lange her. Ich schau‘ mir das nur noch an, wenn ich in Hotels übernachten muss. Wenn man die Sprache des Landes nicht versteht, kann man immer noch CNN und MTV gucken.

WELT: MTV feiert seinen 25. Geburtstag, welche Gedanken hegen Sie zum Jubiläum?

Cokes: Jesus Christ, ist das so lange her? Ich fühle keine Verbundenheit mehr mit MTV. Es war der wichtigste Teil meines Lebens. Ich liebte das Musikfernsehen. Aber MTV ist heute anders. Es ist voll von „Pimp My Ride“-Formaten und dämlichen Datingshows. Es hat seine Bedeutung verloren.

WELT: Inwiefern?

Cokes: Zu meiner Zeit war MTV revolutionär. Speziell in Osteuropa, wo die Menschen Ende der achtziger Jahre noch Schwarz-Weiß-Fernsehen hatten, brachte MTV Farbe in die Wohnzimmer, Mädels in Bikinis, Dinge, die man dort wohl nie zuvor im TV gesehen hatte. Wir kreierten mit meiner Live-Show „Most Wanted“ eine gesamteuropäische Community, wie man sie heute nur noch im Internet findet. Aber MTV hat sich vor langer Zeit ausverkauft. Bevor ich ging, hatten sie bereits aufgehört, das englische Programm für Europa zu senden.

WELT: Ihrer Ansicht nach war die Regionalisierungsstrategie Mitte der Neunziger also ein Fehler?

Cokes: Ich habe mit den Verantwortlichen immer wieder darüber diskutiert und mich dagegen ausgesprochen, aus Geldgründen auf lokale Broadcaster umzustellen. Sie haben argumentiert, dass Zuschauer aus Deutschland deutsche Bands sehen wollen und sich nicht um Resteuropa scheren würden. Ich vertrat die Meinung, dass die Zuschauer das Bedürfnis haben, sich über Musik, Filme und Politik auszutauschen, denn die Menschen in Europa haben ähnliche kulturelle Referenzen. Zehn Jahre später haben wir nun Phänomene wie MySpace.com.

WELT: Haben Sie an Ihrem Arbeitsplatz in London überhaupt etwas von dem gesamteuropäischen Flair mitbekommen?

Cokes: In England konnte ich die Straße entlang gehen, ohne erkannt zu werden, denn dort konnte kaum einer MTV empfangen. Aber wenn man nach Schweden, Deutschland oder Israel reiste, haben die dich behandelt wie einen Superstar! Natürlich arbeiteten auch viele Nationalitäten bei MTV, so dass es sehr europäisch geprägt war.

WELT: Ist Ihnen von Ihrer Kultsendung „Most Wanted“ etwas Bestimmtes im Gedächtnis geblieben?

Cokes: Wir bekamen täglich 2000 Briefe aus ganz Europa. Während des Bosnien-Krieges sogar von beiden Seiten. Mir schrieben Leute, die ihre Eltern durch Bomben verloren hatten, die eine Stunde ihres kostbaren Stroms am Tag aufsparten, um meine Sendung zu sehen. Weil sie dadurch ihr schreckliches Leben in diesem Krieg für einen Moment vergessen konnten. In dieser Zeit haben wir viele Erfahrungen geteilt und ausgetauscht. Die Zuschauer und ich – das war wie eine große Familie.

WELT: Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Gäste?

Cokes: Es gab natürlich viele witzige Begebenheiten mit den Rockstars. Ich pflegte eine freundschaftliche Beziehung zu Take That. Es war wie Beatlemania vor unserem Studio, wenn die da waren. Ich erinnere mich an die Sendung, in der Robbie Williams für läppische 10 Pfund vor ganz Europa blank zog. Oder Bono aus seinem heimischen Wohnzimmer live zum Smalltalk zuschaltete. Ein Höhepunkt für mich war, als ich mit meiner Lieblingsband The Cure „Friday I’m In Love“ auf der Gitarre spielen durfte.

WELT: Sie haben die Grenzen von MTV immer ausgelotet.

Cokes: Wir haben mit allen Regeln der MTV-Bibel gebrochen! Darin stand geschrieben, dass du nicht mehr als 45 Sekunden am Stück reden durftest, dass du in der Mitte der Kamera stehen bleiben musstest. Ich habe schon mal zehn Minuten am Stück gequatscht und bin aus dem Kamerasichtwinkel raus gelaufen. Wir mussten oft bei den Chefs vorsprechen. Wir waren die Punks von MTV!

WELT: Haben Sie das heutige Fernsehen beeinflusst?

Cokes: Definitiv. Ich habe auf meinen Reisen überall Kopien von „Most Wanted“ gesehen. Mein Präsentationsstil hat Dynamik in die TV-Studios gebracht, der Moderator sitzt nicht mehr steif auf seinem Stuhl, sondern läuft vor der Kamera herum. Mein Kameramann und ich kamen irgendwann auf die Idee, uns gleichzeitig aufeinander zu zubewegen. Ich stand nicht vor der Kamera, ich wurde eins mit der Maschine. Der offene Umgang mit meinem Team in einer Live-Show entmystifizierte das Fernsehen und machte es menschlicher. Und natürlich hatte MTV durch die Ästhetik seiner Bilder generell großen Einfluss auf Film und Fernsehen.

WELT: Der Hamburger Spielbudenplatz hat eine nicht unwesentliche Rolle für ihren Abgang bei MTV gespielt.

Cokes: MTV wollte mich gegen Viva einsetzen. Ich musste eine Live-Show von der Reeperbahn moderieren, und ich wusste schon vorher, dass die ohne witzige Ideen und großartige, bekannte Bands ein Desaster werden würde. Da ich kein Deutsch kann, habe ich auch nicht kapiert, dass die Toten Hosen als Livegäste angekündigt waren, tatsächlich aber nur als Satelliten-Übertragung eingespielt wurden. Es war das erste Mal, dass mich Leute auspfiffen und Büchsen nach mir warfen. MTV brauchte einen Sündenbock für die entgleiste Show. Ich wollte es aber nicht auf mir sitzen lassen, dass ich für den Hamburger Albtraum verantwortlich sein sollte.

WELT: Haben Sie das jemals bereut?

Cokes: Ja, das habe ich. Ich werde wohl nie wieder etwas finden, dass so gut zu mir passt wie „Most Wanted“. Ich wollte damals mehr: In England fing Chris Evans an, mich zu kopieren und verdiente Millionen damit. Stefan Raab tat das Gleiche in Deutschland. Ich habe nie großartig Geld damit gemacht. Mein Ego sagte mir: Jetzt will ich auch abkassieren für meine Ideen, die andere mir geklaut haben. Ich will eine fette Show! Nach dem Desaster hatte ich das Gefühl, dass MTV mich, meinen Ruf und die Liebe meines Publikums ruiniert hatte. Ich war zehn Jahre jünger, sagte „fuck you“ – und bin gegangen. Ich hätte den Kampf austragen sollen. Aber ich bin nicht mehr wütend. Ich war es ja lange genug.

WELT: Sie bezeichneten sich selbst gern als „Friend Of The Stars“. Ist davon noch etwas übrig geblieben?

Cokes: Oh ja. In Frankreich moderiere ich eine Musikshow, und viele Bands kommen nur wegen mir. Die machen dann Sachen, die sie für niemanden sonst tun würden, weil sei mir vertrauen. Wenn junge Bands wie die Kaiser Chiefs mich damals nicht auf MTV erlebt haben, dann zumindest ihre Manager. Da genieße ich viel Glaubwürdigkeit. Robert Smith und Brian Molko sind bis heute enge Freunde.

WELT: Was sind Ihre Pläne?

Cokes: Ich glaube immer noch an mein paneuropäisches Fernsehen. Ich würde gern die Community zurück erobern, die ich verloren habe. Ich möchte Europa wieder zum Sprechen bringen. Fernsehmacher riskieren heute nichts mehr. Aber ich bin überzeugt, dass mir mein Vorhaben im Internet gelingen wird.

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