Re: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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White Lightnin‘
(Regie: Dominic Murphy – Großbritannien, 2009)

Die schockierende Lebensgeschichte von Jesco White, ‚The Dancing Outlaw‘, der tief im Herzen West-Virginias in einer brutalen und verkommenen Welt aufwächst. Die Eindrücke von Gewalt und Verfall verschmelzen in seinem jungen Geist zu einer ersten Form von Wahnsinn, die nicht zuletzt durch die mit Alkohol, Klebstoff und Benzin ausgelösten Rauschzustände verstärkt werden. Um Jescos extremen Aggressionen beizukommen, bringt ihm sein Vater den ‚Mountain-Dance‘ bei, eine wilde, lokale Abart des Steptanzes. Jesco lässt seine Emotionen im Tanz aus sich heraus, begeistert das Publikum und wird zu einer Legende im ganzen Land. Doch sein derangierter Geist findet keine Ruhe und es kommt zur Katastrophe…

Aus Großbritannien kommt ein größtenteils in Kroatien gedrehter Film, der sich mit dem Leben der ländlichen Bevölkerung der Appalachen in den USA beschäftigt. Nun, nicht genau mit dem Leben aller Leute dort, sondern dem von Jesco White, einer Mountaindance-Ikone, die das Tanzen von ihrem Vater D. Ray White, einer Mountaindance-Legende, vermacht bekam. Auch nicht wirklich mit Whites Leben, obwohl „White Lightnin'“ als Biopic beworben wird, sondern mit einer eingedampften und neu aufgekochten Version der Ereignisse, von Regisseur Dominic Murphy nach Belieben nachgewürzt und psychotrop verfeinert.
Mountaindance ist eine wilde, sorglosere Variante des Stepptanzes, wie sie eben in den Appalachen praktiziert wird; einer Region, die Europäer und viele US-Amerikaner meist nur aus Horrorfilmen oder schlechten Redneck-Witzen kennen. Glaubt man Dominic Murphy, ist es auch kein lebens- oder gar liebenswerter Landstrich, denn die beinharte Armut, der Alkoholismus und der religiöse Wahnsinn lassen keine Aussicht auf ein glückliches Leben. Vielleicht abgesehen von Musik und Tanz, die einzige Zerstreuung, die eine kleine Fluchtmöglichkeit bietet, vor einer Existenz, die in nahezu jeder Sekunde von der Bibel und Jesus Christus überschattet wird. Das letzte Quäntchen Lebenslust, das nicht aus dieser feindlichen Umgebung herausgesogen wurde, findet sich dann auch in den Bildern des Filmes wieder: Ein jämmerlicher Rest von Farbe überlebt in den fast monochromen Aufnahmen, die Murphy uns 88 Minuten um die Ohren schlägt.
Der Titel „White Lightnin'“ ist ein Synonym für „Moonshine“, dem illegalen Selbstgebrannten, welchem Jesco White auch selbst fleißig zuspricht, wenn er nicht gerade auf der Suche nach dem härteren Stoff ist und sich mit Benzinschnüffeln oder Heroin betäubt. Seine Vorliebe für Drogen bringt ihn schon als Kind unzählige Male in die Gewalt des Personals von Besserungsanstalten, die ihm dabei helfen, ein wirklich schlechter Mensch zu werden. Kein Wunder, denn das Interesse an den Schützlingen ist nur geheuchelt und muss die Fassade des Kümmerns aufrecht erhalten, wo es eigentlich nur darum geht, bisher eher harmlosen Kindern ein protestantisches Arbeitsethos einzubläuen. Wer seine Arbeitskraft nicht in den Dienst der Gemeinschaft stellt, hat auch kein Recht zu essen und zu leben. Also ganz ähnlich wie Drogentherapien heute immer noch funktionieren.
Das zweite zentrale Thema von „White Lightnin'“ ist Rache, geknüpft an das Konzept von Schuld und Sühne. Hier gelingen Dominic Murphy ein paar eindrucksvolle Szenen, die mit erschlagender Wucht das Dilemma bis auf den letzten Blutstropfen auskosten. Wenn der Hauptdarsteller im breitesten West Virginia-Idiom über das Leiden Christi sinniert und es imitiert, werden diese intensiven Szenen nur noch davon getoppt, wie die Bilder des Films sich dem Soundtrack anpassen: Ich kann mir keine bessere visuelle Umsetzung des rohen, psychotischen Rockabilly von Hasil Adkins vorstellen, als diese in „White Lightnin'“. Die völlig irre, düstere Seite dieser Musik wird durch sie in den Mittelpunkt und zur Schau gestellt. Ein schauriges Zusammenspiel, das unverschämt gut funktioniert. Auch die restlichen Tracks sind sauber ausgewählt. Neben den Songs des Black Rebel Motorcycle Club findet man natürlich auch Bluegrass und Honky Tonk.
Kaum zu glauben, dass sich in diesem von Rache angetriebenen Leben ein Platz für die Liebe findet. Noch unglaublicher, dass Jescos große Liebe, eine immerbereite, ältere Dame, von Carrie Fisher gespielt wird. Ja, richtig gehört! Prinzessin Leia aus „Star Wars“ tankt White Lightnin‘ und fickt einen Hinterwäldler. Dies war eine Herausforderung für Hauptdarsteller Edward Hogg, stellte ihn als großer „Star Wars“-Fan eine Sexszene mit Leia Ogana doch vor einige Probleme – die er letztendlich mit Bravour meisterte. Sein Spiel ist auch während des restlichen Films tadellos.
I-ON New Media hätten ihre Störkanal-Reihe mit keinem geeigneteren Film eröffnen können. „White Lightnin'“ schmeckt nach Rost und Blut, ist dabei roh und erfrischend, höchst eigenständig und bietet eine wundervolle Verzahnung von Soundtrack, Bildern und Geschichte. Grisly, but dope.

Trailer

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