Startseite › Foren › Kulturgut › Für Cineasten: die Filme-Diskussion › Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II) › Re: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)
Napoleon DynamiteJa, der Film erfordert erst einmal, dass man ihm aus heutiger Perspektive entgegenkommt, weil er nirgends so recht hinpassen will: Einerseits besitzt er noch nicht die formale Verfeinerung des europäischen Kinos der 60er Jahre (das allegorische Setting wird intuitiv benutzt, nicht designästhetisch gesucht oder konstruiert), teilt andererseits aber mit dem Nachkriegskino nicht mehr die Unsicherheit, wo die neuen Grenzen zwischen Entertainment-Konvention und zeitgenössischer Reaktion im Film verlaufen müssen. Rossellini macht den Film nach 1945 kontemporär: Zunächst mit seiner neorealistischen Trilogie, in welcher er der immer noch relativ neuen Kunst die Unschuld nimmt, eine tote Frau auf der Leinwand könne, obwohl Film nicht der gleichen Logik wie Zeitgeschehen folgt, von lebensweltlicher Erfahrung abstrahiert werden.
True dat. In gewisser Weise ist Viaggio auch Realismus – zumindest für das Thema, das der Film anschneidet. Kann nicht so straight und klar getrennt sein sein wie Roma – wie auch. Dass jetzt die Konflikte (um mal das Wort „Krieg“ nicht zu gebrauchen) unter der Oberfläche, in den Köpfen statt finden, erfordert eine neue Filmsprache. Und doch greift Rossellini gelegentlich auf den Neo-Realismus zurück, wenn er Strassenszenen zeigt aus denen Bergmann flieht. Während die anderen Regisseure zu der Zeit noch versuchten den Neo-Realismus zu retten, de Sica mit Hollywood-Star-Appeal (zu spät, das hatte De Santis schon mit Riso Amaro versucht) oder als Theaterbühne wie Fellini, wandelte Rossellini „seine“ filmische Sprache, entwickelte sie weiter. Finde ich ungeheuer spannend und tapfer.
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Und er setzt die Autonomie der Kunst wieder in ihr neu belebtes, selbstreflexives Recht: Wenn zwei Menschen 90 Minuten im Auto fahren, dann ist das was passiert, Liebe und ihr mähliches Verschwinden, auch Krieg. Das ist „Viaggio in Italia“. Leider gibt es keine einzige Filmgeschichte, die ich kenne, die das so oder ähnlich darstellt – in der Regel wird durch den Begriff Neorealismus alles etwas arg schematisiert und symptomatisch auf „Roma, città aperta“ heruntergebrochen, obwohl das eine vielschichtigere, mehrere Jahre andauernde Entwicklung ist.
Ist ja auch schwer, siehe meine Beispiele oben. Aber in Rossellinis Kriegstriologie (und in einigen anderen) ist der Neo-Realismus direkt erfahrbar. Anders formuliert: wenn nicht dort, wo dann?
Viaggio mag ich sehr gern, auch wenn ich seine „realistischen“ Filme, ganz einfach wegen ihrer Unmittelbarkeit immer noch lieber mag: Stromboli und natürlich Paisà (seit ich ihn das erste Mal gesehen habe, fest in der Top Ten/Twenty verankert).
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Jedenfalls: Rossellini ist für mich persönlich einer der ganz wichtigen Erneuerer des Films – ähnliche Zäsuren sehe ich davor nur bei D.W. Griffith und danach mit Godard und Swanberg. In den letzten Jahren ist immer wieder mal der eine oder andere Film aus meiner Top 10 gepurzelt, „Viaggio in Italia“ behält aber mit kühler, unbeirrbarer Konstanz seinen Platz. Daran, was für ein Hammer auf meinen Schädel krachte, als ich den Film das erste Mal gesehen habe, kann ich mich auch heute noch sehr lebendig erinnern. Und wenn ich die Mienen, in dem von dir geposteten Bild sehe, gypsy, dann weiß ich auch sofort, wohin der Blick sich im späteren Gegenschnitt wenden wird:
Hatten wir da nicht mal einen Thread – Erneuerer? Rossellini als Erneuerer: wegen Roma oder wegen Viaggio (oder beiden)?
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If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.