Re: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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latho
No pretty face

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Beiträge: 36,995

ClauJa, sehr.
Ich nicht, sie haben sich doch geliebt.

Natürlich ist das erhebend. Diese Verve ist ja das, was Adèle ausmacht, deswegen wird sie verehrt, von Emma, dem Galleristen, Emmas Freunden, von der Kamera, vom Zuschauer. Aber was hat sie selbst denn davon? Adèle steht am Ende mit nichts da. Dieser Hang dazu, im Moment zu leben und sich diesem voll und ganz hinzugeben, steht ihr zum Glücklichsein im Weg, glaube ich.

Drei Jahre nachdem die Beziehung mit Emma beendet ist, steht sie immer noch am selben Punkt. Das Treffen im Bistro, bei dem ihr klar wird, das es kein Zurück geben wird, obwohl Emma sie (körperlich) mehr begehrt als Lise, Emmas neue Freundin. Sie bleibt aber mit der sehr schmerzhaften Gewissheit zurück, dass das nicht ausreicht. Später, bei Emmas Vernissage, hat sich immer noch keine erträgliche Distanz eingestellt, im Gegenteil, sie liebt und begehrt sie weiterhin. Dazu sieht sie die Bilder von sich (=Emmas ehemaliger Muse!), aber auch die Bilder von Lise und anderen. Sie hat früher nur für Emma Modell gestanden und hätte das nie für andere getan, jetzt erkennt Adèle, dass Emma andere Frauen malt, die Erde dreht sich für Emma also weiter, für Adèle aber nicht, sie steht emotional an der gleichen Stelle wie an dem Tag, als sie aus der gemeinsamen Wohnung rausgeworfen wurde – Jahre später und das mit Anfang zwanzig.

Sollten weitere Kapitel verfilmt werden (hat die Comic-Vorlage weitere Kapitel?), so bin ich mir beinahe sicher, dass Adèle nicht aus diesem Dilemma wird entfliehen können.

Der Comic ist nur ein Band (und kein besonderes wie ich hörte, kurzes Querlesen im Laden hat mich bestätigt), da kommt nichts mehr. Ist egal, weil sich Kechiche sowieso recht weit von der Vorlage entfernte (zB beim Namen der Hauptperson), Chapitres 3 & 4 halte ich also für möglich.

Der Film dreht sich um Adèle und zwar in Phase 1 und 2 ihres Lebens, sie ist also noch sehr jung (und sich zB anfangs ihrer Sexualität alles andere als sicher) und Adèle ist hungrig – und zwar in jeder Beziehung. Das kann man sehr schön daran sehen, wie Exarchopoulos zulangt, wenn es ans Essen geht (hach, so richtig schön seit Girls mit Lena mal wieder eine Schauspielerin so richtig essen zu sehen, das ist in Hollywood ja bald so verpönt wie Rauchen). Aber eben auch in der Liebe ist Adèle unersättlich und verliebt sich auf den ersten Blick, mit Haut und Haaren. Emma ist abgebrühter, erfahrener und weltgewandter, es kann also nicht funktionieren, das weiß man eigentlich gleich von Anfang an. Von daher ist es keine Überraschung, dass die zwei sich streiten, sich betrügen, dass Adèle mit ihrem Liebeshunger und ihrer Unerfahrenheit nicht von Emma loskommt. Aber das ist kein Scheitern, denn es sind ja erst die ersten zwei Kapitel in Adèles Leben (egal, ob Kechiche noch weitere Folgen dreht), wir als Zuschauer sehen also, wie es Adèle ergeht, als sie jung ist, gerade erwachsen wird. Und das ist auch der eigentliche Punkt des Films: Adèles Leben steht im Mittelpunkt, in Nahaufnahme immer mit Adèle im Blick gefilmt. Und wenn Adèle am Ende Emma richtiggehend belästigt und nicht vergessen kann, dann ist das doch nur der Beweis, wie prägend die Beziehung für sie war, dass sie nicht tot oder verhärmt irgendwo existiert, sondern weiterhin hungrig ist. Das ist für mich das Erhebende: Adèle startet mit einem Fehlgriff ins Leben – oder auch nicht, eine Bewertung der Beziehung als „gut“ oder „schlecht“ nimmt Kechiche ja nicht vor, sie ist vor allem intensiv (um dass zu zeigen, muss Kechiche auch die gelegentlich kritisierten Sexszenen einbauen). Der Start funktioniert nicht astrein, aber Adèle startete kraftvoll und wenn wir Glück haben, kann man ihr noch ein wenig beim Leben zusehen.

Ist so etwas klarer, was ich meinte?

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If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.