Re: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

Startseite Foren Kulturgut Für Cineasten: die Filme-Diskussion Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II) Re: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

#4527261  | PERMALINK

napoleon-dynamite
Moderator

Registriert seit: 09.11.2002

Beiträge: 21,870

Sonic JuiceIch weiß nicht, wie der aktuellste Stand der Planung ist, aber beabsichtigt war ja schon, eine volle Fünfeinhalbstunden-Fassung zu schneiden. Die 4-h-naja-„Kurzfassung“ hat ja schon noch einige lose Enden. Nehme an, dass man das dann als Mehrteiler fürs Fernsehen konzipiert und nicht nur ein weiteres Mal für DVD.

Ja, das ist aber eine (eher zweitrangige) Angelegenheit von Vertriebsstrukturen & heutigen Produktionszusammenhängen und hat mit der audiovisuell-narrativen Strahlkraft eines Filmes nichts zu tun, ästhetischen und erzählerischen Elementen also, die mithin immer noch das entscheidende Unterscheidungsmerkmal sind, ob etwas fürs Fernsehen oder Kino konzipiert ist. Reitz sagte es ja selbst in Interviews: Nach mehreren Jahrzehnten, die er ausschließlich für das Fernsehen gearbeitet hatte, wollte er sich am Ende seines Lebens noch einmal den Wunsch erfüllen, etwas eigenständig für die große Leinwand konzipiertes zu drehen, von einem neuen Punkt Null auszugehen. Das zeichnet „Die andere Heimat“ für mich schon sehr markant aus – mit einer absolut unvergleichlichen Trennschärfe zur sonstigen TV-/Kinoproduktion in Deutschland. Hier schließt ein einziger Künstler die Augen und durch die Lider strahlt die Kamera.

Ich finde die ganzen Diskussionen über verschiedene Schnittfassungen, die seit Internetforen und DVD-Releases an Bedeutung gewonnen haben, übrigens überhaupt nicht so wichtig und tendenziell auch eher falsch geführt, zumindest wenn es darum geht definitive Fassungen zu nobilitieren. Es gab in der ganzen Filmgeschichte nie eine Zeit, in der Filme primär nicht in kürzeren Fassungen erschienen sind als sie ursprünglich geplant waren – eigentlich ist es sogar andersherum die Norm: Wenn ein Film nicht selbstfinanziert und eigenvertrieben war, wurde er eher öfter als selten nach Testvorführungen, Festivalpremieren etc. gekürzt. „Apocalypse Now“: Ist die Kinofassung von 1979 lediglich die Kurzfassung der späteren Redux-DVD-Fassung? „The Brown Bunny“ bislang nicht existent, weil die ursprüngliche Cannes-Fassung deutlich länger war? Jean Renoir ein Regisseur ohne Filmografie, weil, wie Jacques Rivette mal über sein Werk schrieb, nahezu sämtliche Filme mindestens eine Stunde länger dauern sollten? Averys „The Rules of Attraction“ eine Mogelpackung, weil eine komplette Episode fehlt? Die Variationsmöglichkeiten, die heutige Medien bieten, sind eben das: Möglichkeiten der Variation. Und ein Beweis dafür, dass es in einer Kunstform, die viel industrieller organisiert ist als jede andere, eben die klare, auf eine einzige Person reduzierbare Autorenschaft nur selten möglich ist. Immer schon Beschränkungen und gegenseitige Annäherungen kennzeichnend waren. Daraus entstand ja letztlich auch der Groove und die Verdichtung, die einen Kinofilm kennzeichnen. Wenn nun die Entscheidungsträger an der Schnittstelle zwischen Produktion und Kinowirtschaft den deutschen Zuschauern keinen fünfeinhalbstündigen Film zutrauen: Tough luck. Ich bin meinetwegen darauf gespannt, was eine längere Fernsehfassung von „Die andere Heimat“ leistet, aber das ändert doch nichts daran, dass der Film eben Scope und großen Resonanzraum braucht, Widescreen, Lautstärke, Dunkelheit und keine Möglichkeit, das epische Gesamtwerk eigenmächtig in kleinere Häppchen herunterzubrechen. Kino halt.

--

A Kiss in the Dreamhouse