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Koyaanisqatsi
(Regie: Godfrey Reggio – USA, 1982)
Von der bis vor 500 Jahren im Westen der USA existierenden Fremont-Kultur blieben eindrucksvolle, ihren Kosmos beschreibende Felszeichnungen zurück. Seit jeher ist für menschliche Zivilisationen die Frage nach einem Dasein im Einklang mit der Natur eine des Überlebens. Essentieller Teil unseres so genannten Fortschritts und unserer heutigen Technik ist die Ausbeutung unserer Umwelt in einem früheren Generationen unbekanntem Ausmaß.
Fast ein halbes Jahrzehnt arbeiteten Regisseur Godfrey Reggio, Komponist Philip Glass und Kameramann Ron Fricke an „Koyaanisqatsi“, der in 80 Minuten das Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur erforscht und in dieser Zeit ebenfalls den Mensch zeigt, der von seinen eigenen Erfindungen an den Rand gedrückt und zum Nebendarsteller degradiert wurde.
„Koyaanisqatsi“ ist ein Wort aus der nur mündlich existierenden Sprache der Hopi-Indianer, das man in etwa mit „Leben im Zerfall“ oder „Leben im Ungleichgewicht“ übersetzen kann; es bezeichnet auch einen Zustand, der dringend geändert werden muss.
Wer jetzt schon genervt oder gelangweilt abwinkt, weil ihm die Mär vom edlen Wilden, der mit der Natur im Einklang lebt, aus den Mythen der Öko-Bewegung bekannt ist, sollte vielleicht kurz innehalten, denn „Koyaanisqatsi“ enthält sich eines ideologisch getränkten Kommentars.
Der Film verzichtet auf Wörter/Sprache (sowohl aus dem Off, als auch auf Dialoge oder Monologe) und auf eine Handlung. Einzig die assoziativ montierten Bilder im Zusammenspiel mit der hypnotischen Musik von Philip Glass können den Zuschauer zu eigenen Schlussfolgerungen verleiten.
Glass nennt dies „einen Raum innerhalb des Films für den Zuschauer schaffen“, der sonst besetzt ist. Als markantes Gegenbeispiel führt er Werbeclips an, die durch die extreme Verdichtung von Botschaft, Musik, Sound und Bild den Konsumenten und seine eigenen Gedanken aussperren. Glass hält dies für einen der Gründe, warum wir Werbung so sehr hassen.
„Koyaanisqatsi“ beginnt mit Felsmalereien, geht über zu einem Raketenstart, der nach und nach aus Detailaufnahmen zu einem Bild des größeren Ganzen gelangt und zeigt dann verklüftete Wüsten- und Felslandschaften, die durch das Spiel der Wolken und des Wassers abgelöst werden. Darauf folgen Aufnahmen unserer Zivilisation, die sich als Moloch aus Beton, Stahl und Glas darstellt: Stromleitungen, Kraftwerke, der gefräßige Tagebau, Kriegsmaschinerie, Panzer, Autos.
Die Fahrzeuge führen im immer dichter werdenden Verkehr in die Städte der Menschen, die durch ständige Bewegung gekennzeichnet sind. Selbst in der Nacht pumpt die Stadt pausenlos Personen und Wagen durch ihre Straßenadern.
Hier gelingen Fricke und Reggio faszinierende Aufnahmen, die man heute in jeder Vorabenddokumentation finden kann, die Anfang der 80er Jahre aber einen neuen Blick auf die Welt eröffneten. Gleichzeitig mit dem Aufkommen der erschwinglichen „personal computer“ sahen Städte bei Nacht auf einmal aus der Vogelperspektive wie Mikrochips aus.
Reggio arbeitet vor allem mit Zeitraffer und Zeitlupe, setzt unterstützend ebenfalls Großaufnahmen und dominante Perspektiven ein. Es ist schwer zu sagen, ob die Filmmusik die Bilder untermalt, oder ob die Bilder nach der Filmmusik tanzen. „Koyaanisqatsi“ hinterlässt in diesem Bereich einen organischen Eindruck, der es kaum zulässt, sich die visuelle Seite des Films ohne die musikalische vorstellen zu können – und umgekehrt.
Schon zu Beginn tönt Glass Komposition bedrohlich und unheimlich, schwingt sich dennoch zu luftig-leichten Höhenflügen auf. Erst mit dem Erscheinen der (unglücklich wirkenden) Menschen im Stadtbild, gerät sie in Hysterie. Das Tempo des Lebens in der Megacity spiegelt sich in ihr wieder. Überdreht, leicht verzerrt, unwirklich.
Die kleinen Muster der Mikrochips scheinen sich über die Welt gelegt zu haben und die Menschen in ein enges Korsett zu binden, das sie als Masse durch eine Welt der Technik bewegt, über die sie längst nicht mehr Herr sind. Technik wird nicht mehr benutzt, Technik wird gelebt, der Mensch ist Teil der Technik. Ein Kultur-, aber kein Naturwesen eben.
Der Film, der mit dem Start einer Rakete eröffnet wird, schließt letztendlich mit der Explosion einer anderen, die minutenlang in Zeitlupe und Großaufnahme am Himmel brennt und zerfällt. Die mißmutige Prophezeiung der Hopi-Indianer hätte es in diesem Zusammenhang gar nicht gebraucht; die Bilder sprechen lauter als Worte.
„Koyaanisqatsi“ ist ein bildgewaltiges, musikalisch geniales Essay, das sich die Sprache verkneift und den Zuschauer einlädt sich zwischen all diesen Eindrücken ein eigenes Plätzchen zu suchen und darüber zu entscheiden, ob und was ihm hier vermittelt werden soll oder ob er sich nur an Bild- und Musikkomposition erfreuen will.
Zwei Fortsetzungen sollten 1988 und 2002 folgen, die zusammen mit „Koyaanisqatsi“ die „Qatsi“-Trilogie bilden.
Trailer: http://www.youtube.com/watch?v=1jM2WA2WbDc
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