Re: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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Benny’s Video
(Regie: Michael Haneke – Österreich/Schweiz, 1992)

Der 13-jährige Gymnasiast Benny lebt in einer in sich abgeschlossenen High-Tech-Wohlstandswelt. Sein Alltag wird bestimmt von Action- und Gewaltfilmen, Videospielen und Musik. Mit einem Bolzenschußgerät zum Schlachten von Schweinen tötet er in seinem Zimmer ein gleichaltriges Mädchen, während die Videokamera mitläuft. Der Beobachter schwankt bei der Einordnung der Motivation im Verlauf der Tat zwischen Fahrlässigkeit, Mutwillen und Neugier. Mit einem gewissen Grauen beobachtet man wie Benny scheinbar regungslos die Spuren beseitigt. Als er schließlich seinen Eltern das Video vorspielt, werden diese zu seinen Verbündeten bei der Entsorgung des Leichnams. Doch die reibungslose Rückkehr zur Tagesordnung mißlingt, als Benny alles der Polizei erzählt.

Die kritische Distanz von Michael Haneke zur Gewalt im Unterhaltungsfilm ist bekannt und ein wiederkehrendes Motiv in seinen Arbeiten. Er lehnt Mord und Totschlag als Spektakel ab und zeigt sich fast schon angewidert von der Art des Umgangs, die Hollywood und die daran angeschlossene Filmlandschaft damit pflegen. Wenn man ihm mit Scheinargumenten wie „Realität“ und dem „Lauf der Welt“ kommt, weist er darauf hin, dass „im Thriller keine Kinder und Tiere sterben“, das Ganze also eine hochgradige Heuchelei ist.
In „Benny’s Video“ stirbt nicht nur ein Kind, in „Benny’s Video“ tötet ein Kind ein anderes Kind.
Zuvor erfahren wir aber von den Zauberkräften des Films, die Gewalt, Tod und Sterben zu einer vollkommen gleichgültigen Veranstaltung machen können: Die Videoaufzeichnung der Tötung eines Schweins mit einem Bolzenschussgerät. Beliebig vor- und rückspielbar, in Bild und Ton manipulierbar. Der Tod des Schweins, der Tod des Schweins in Zeitlupe, die Auferstehung des Schweins, das Schwein im Leben, der Bolzenschuss, der Tod des Schweins. Um diese grausigen Bilder und Töne herum, die Gesichter der Bildungsbürgerfamilie im Urlaub. Zur Ruhe kommen, zu den Wurzeln zurückkehren, den Intellekt mal ablegen, Schweine schlachten auf dem Bauernhof.
Während Benny (gespielt von Arno Frisch, der diese Rolle quasi später in „Funny Games“ weiterführen wird) in einem von Bildschirmen und Rekordern, Bild- und Tonreproduktionsgeräten vollgestopftem High Tech-Kämmerlein haust, teilen sich seine verknöcherten Eltern ein Museum als Wohnung. An den Wänden hängen Nachbildungen der alten Meister, Angestaubt-Wissenschaftliches – und tote Tiere. Hier gibt es keine Rückkehr ins Leben, hier ist alles gestorben und schon lange tot. Keine Rückspultaste, die die Situation ändern könnte.
Benny kapselt sich in seiner eigenen Welt ab und versucht die stille, verkrampfte Nüchternheit durch Horrorvideos (man erkennt einen Ausschnitt aus „Toxic Avenger“), laute Heavy Metal-Musik, Comics, Privatfernsehen und sogar Nachrichten über die Kriegsgräuel in Ex-Jugoslawien zu überwinden. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde Michael Haneke diese Medien für die folgende Tötung verantwortlich machen. Ich schätze aber, dass Haneke viel zu intelligent ist, um auf eine solche „Kritik“ reinzufallen, der sich vor allem die Barbaren des Jugendschutzes und die Ritter der Christlichkeit bedienen. Die Apologeten des Mainstreams, in deren bevorzugten Werken Gewalt keinen Platz mehr hat, es sei denn, es wird gesittet gestorben, es tut niemandem weh und man hinterlässt eine schöne Leiche. Am besten natürlich für Religion, Nation oder die Angebetete.
Die eigentliche Tat, die ein provozierter Unfall ist, mag dem Schweinevideo ähneln, ist in meinen Augen aber eher ein MacGuffin, der Kind und Eltern zwingt zusammen kommunizieren und funktionieren zu müssen, wo man vorher nur nebeneinander hergelebt hat. Die Tat ist egal, das getötete Mädchen ist vollkommen egal. Die Familie verschwendet nicht einen Gedanken an Schuld oder Reue, sondern nur daran, wie sie der Strafe und Sühne entkommen kann. Angetrieben vom Vater, der dies vor allem als ein Imageproblem für die Zukunft ansieht.
Bildungsbürgerlich nüchtern eruiert man die Zerstückelung und Beseitigung der Leiche, ersinnt einen Fluchtplan und die passende Geschichte dazu. Dabei stößt man immer wieder an Grenzen; meist Ratlosigkeit, die sich um bestimmte Sachverhalte dreht, bei der Mutter aber auch an nervliche Grenzen.
Während einer mehrtägigen Urlaubsreise durch Ägypten, die die Zeit vertreiben soll, bis sich die Wogen in der Heimat geglättet haben, erleidet Bennys Mutter dann auch einen Nervenzusammenbruch, der sich in einem Heulkrampf äußert.
Die Museumsstille und -hülle ist durchbrochen. Der Vater von seinem hohen Ross der Unbesiegbarkeit gestoßen, die Mutter zu Gefühlen gezwungen. Ob Benny dies als Triumph empfindet, ist schwer zu sagen. Es macht die Familie auf jeden Fall „interessanter“.
Damit würde auch das Ende Sinn ergeben: Als Benny und seine Mutter von der Ägyptenreise zurückkommen, hat der Vater alles erledigt. Die Leiche ist beseitigt, die Polizei schöpft keinen Verdacht. Es sieht ganz danach aus, als könne alles wieder so wie vorher werden. Dazu hat Benny aber keine Lust: Er zeigt sich selbst und seine Eltern an. Eine Rückkehr in das stumpfe Leben scheint ihm ein Graus zu sein, er sucht die Sensation, auch um den Preis der eigenen Verletzbarkeit.

Trailer: http://www.youtube.com/watch?v=62w0j7-d4ms

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