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Attenberg
(Regie: Athina Rachel Tsangari – Griechenland, 2010)
Die 23-jährige Marina (Ariane Labed) hat noch keine Erfahrung mit ihrer Sexualität gemacht. Stattdessen bezieht sie ihre Informationen über Verhaltensweisen und der Sexualität aus Tierdokumentationen von Sir David Attenborough. Folglich ist die Welt der Affen für Marina plausibler, als die der Menschen.
Ihre einzigen Bezugspersonen sind ihr krebskranker Vater und Freundin Bella (Evangelia Randou). Diese hat sich das Ziel gesetzt, Marina aufzuklären. Aus diesem Grund übt sie den Zungenkuss mit ihr und erzählt ihr von ihren körperlichen Erfahrungen mit Männern. Marina findet bald Gefallen an der Thematik. Dies verstärkt sich, als ein Fremder in die Stadt kommt, der eindeutige Signale in ihre Richtung sendet.
Nach „Dogtooth“ ist „Attenberg“ meine zweite Begegnung mit dem neuen griechischen Film. An beiden Werken ist Giorgos Lanthimos beteiligt, beim ersteren als Regisseur, bei diesem hier als Darsteller.
Regisseurin Athina Rachel Tsangari bedient sich gewollt spröder, statischer und schmuckloser Bilder, die das Dasein von Marina (Leben kann man dieses Vegetieren in Theorie und Warteschleife kaum nennen) nüchtern und sachlich umrahmen, wie die eher hässlichen Bauten ihres todkranken Vaters (einem Architekten, der sich mittlerweile für sein Lebenswerk schämt) das kleine Örtchen auf einer griechischen Insel einrahmen. Er verantwortet die bauliche Umsetzung einer übereilten Industrialisierung, die das ursprüngliche Griechenland unter Betonschrott begraben hat. Er hat keine Freunde, keine Frau, er hat keine Lust am Leben und nichts als zynische Verachtung für das Sterben und den Tod übrig. Einzig seine Tochter, mit der er eine Vorliebe für die Tierdokumentationen von Sir David Attenborough teilt, reißt ihn aus seiner Lethargie, besser gesagt: das künftige Leben seiner Tochter (ohne ihn), denn Marina erscheint emotionslos und asexuell. Sie ist in etwa so sehr am Leben interessiert wie ihr Vater. Trotzdem schafft es ihre beste Freundin Bella die Neugier von Marina zu wecken und einen kleinen Funken des Interesses in ihr zu entzünden.
Diesen kalten und eher humorlosen Hintergrund des Films unterbricht Tsangari hin und wieder durch kleine, tänzerische Einlagen, die wie Zäsuren wirken und den Film in mehrere Abschnitte unterteilen. Die grotesken Bewegungen dazu scheint man sich im „Ministry of Silly Walks“ von John Cleese ausgedacht zu haben.
Eine ähnliche Aufmerksamkeit zieht auch die musikalische Gestaltung von „Attenberg“ auf sich. So ist der Einsatz von „Ghost Rider“ der Band Suicide nach dem züngelnden Prolog gewagt, unterlegt dieser Track doch Bilder, die man nicht unbedingt mit einem Song vom ersten, dunkel-fieberigen Album dieser Band verbinden würde. Auch später tauchen weitere Tracks von Suicide auf, die immer leicht deplatziert wirken. Man kann den Tanz am Totenbett des Vaters zu „Be Bop Kid“ rührend oder einfach nur grotesk finden – fest steht, dass Marina es geschafft hat, sich aus ihrem Panzer zu lösen. Aus der eher unbeholfen wirkenden jungen Frau, die ihre ersten sexuellen Erfahrungen durch einen Dokumentarkommentar (wie sie ihn bei Attenborough viele Male gesehen hat) versaut, wird eine Erwachsene, die Tabus (wie den Sex mit Sterbenden oder eine familiäre, elektrale Annäherung) durchaus für sich und ihr Seelenleben zu nutzen weiß.
Interessant ist auch die Perspektive auf Sexualität, die in westlichen Gesellschaften einmal in einer klinisch-sauberen, wissenschaftlichen Art gelehrt wird und trotzdem mit einer Vielzahl an dämlichen Regeln und Erwartungen aufgeladen ist. Man nehme nur den pseudoromantischen Gedanken, dass Sexualität etwas Kostbares sei, das man erst wie ein zartes Pflänzchen schützen und dann sparsam verwenden müsse. Sexualität ist nicht die Trinkwasserreserve des Sudans. Sex ist Rumlecken, Reinstecken und den „Kolben“ arbeiten lassen, an dessen Ende dieses Geschöpf namens Mann hängt. Ich behaupte nicht, dass dies eine der Regisseurin genehme Interpretation ihrer Arbeit ist, es sind aber Gedanken, die „Attenberg“ in mir heraufbeschworen hat.
Auch mit dem Tod und den damit verbundenen Unannehmlichkeiten setzt sich Marina auseinander. Zuerst ähnlich angewidert wie durch die Sexualität, sieht sie sich in diesem Feld ebenfalls mit Sinnlosem und dämlichen Ritualen konfrontiert, nur noch getoppt, durch die oberflächliche und empathielose Art der Menschen damit umzugehen.
Der Ernst des Lebens, den man ihr als Spaß verkaufen wollte, hat begonnen. Die wilden Tollereien im Bett ihres Vaters, das Tierspielen und Tiersein sind vorbei. Und Marina kann damit umgehen.
Trailer: http://www.youtube.com/watch?v=jhvkD7z6jnU
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