Re: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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Belladonna der Trauer
(Regie: Eiichi Yamamoto – Japan, 1973)

Das keusche Liebespaar Jeanne und Jean ist überglücklich miteinander und möchte den Bund fürs Leben schließen. Als der geldgierige Fürst dem mittellosen Pärchen eine horrende Hochzeitssteuer abverlangt, setzt die eigentliche Tragödie ein: Jean wird aus dem Schloss gejagt und seine jungfräuliche Frau zur Hure gemacht. Am Tiefpunkt ihres Lebens angekommen, erscheint Jeanne der Teufel in Phallusform und verspricht, sie von ihrem Leid zu befreien. Von nun an sabotiert Jeanne im Auftrag des Teufels die herrschende Ordnung, schützt das Volk vor Armut und Pest und propagiert die freie Liebe.

Bis vor wenigen Jahren war die Meinung weitverbreitet, dass Trickfilme vor allem zur Unterhaltung von Kindern dienen. Die Cartoons im Frühstücksfernsehen, die großen Disney-Schnulzen und die 3D-Familiengeschichten von Pixar bis Dreamworks beherrschen auch heute noch die Vorstellung davon, wie dieses Genre auszusehen hat.
In Japan gibt es aber schon lange Zeichentrickfilme für Erwachsene, sogenannte Animes, die ab den 90er Jahren auch in Europa und den USA ihren Siegeszug antreten konnten. Ähnlich wie im Falle der Mangas wird hier zur Kunstform erhoben und durchaus anspruchsvoll für Erwachsene gestaltet, was in Europa eher belächelt wird.
Ich bin kein großer Kenner des Genres, auch meine Trickfilmsozialisation entstand größtenteils unter der Aufsicht von Walt Disney und Tex Avery. Ich unternahm ein paar kleinere Ausflüge an die Ränder, zum Beispiel mit „Der phantastische Planet“ oder „Mary & Max“, ja, dank dem monatlichen Informationskatalog der BPjM ist mir selbst „Fist Of The North Star“ nicht fremd. Trotzdem bleibt Anime eine große Unbekannte für mich, ein Feld, das es noch zu entdecken gilt.
Regisseur Eiichi Yamamoto bedient sich für „Belladonna der Trauer“ sehr frei bei der Geschichte von Jeanne d’Arc und verbindet sie mit klassischen, großen Literaturthemen („Faust“ ist nur das offensichtlichste davon) und dem Zeitgeist der frühen 70er entspringenden Aspekten wie Feminismus und politischem Widerstand gegen die alten, verkrusteten Systeme. Dies aber vor allem aus einer männlichen Sicht heraus, was der Kongruenz des Films etwas schadet. Die ambivalente Figur des Teufels lässt Jeanne manchmal nicht als eigenständig handelnde Frau erscheinen, sondern als Getriebene einer höheren Macht. Vor allem zu Beginn des Films ist dies verwirrend, im Laufe der Handlung wird ihr Märtyrertum jedoch zunehmend selbstbestimmter.
Diese Hintergrundgeschichte dient letztlich auch nur als Gerüst für die rauschhafte Umsetzung in Bild und Ton. Yamamoto verwendet Animationen eher spärlich und verlässt sich auf abgefilmte Bilder (besser: Kunstwerke), die oft sehr an die Arbeiten von Gustav Klimt erinnern – und damit auch an die vom Jugendstil beeinflussten Plakate der Psychedelia-Szene in San Francisco, Mitte bis Ende der 1960er Jahre. Viele weitere Stile und Techniken werden damit vermengt und von einem herrlichen Psychedelic Rock-Soundtrack getragen, der durch „japanische Chansons“ bereichert wird, die einen Teil der Geschichte erzählen, ähnlich der Songs aus den Filmen der „Sasori“-Reihe.
Auch das Ende von „Belladonna der Trauer „(Originaltitel: „Kanishimi no Belladonna“, auch als „Die Tragödie der Belladonna“ bekannt) ist der Hippie- und Antikriegsbewegung, sowie den politischen Aufständen der 68er geschuldet. Anstatt sich aber auf die Gegenwart zu beziehen, verpackt der Regisseur dies geschickt in einen auch von konservativen Zuschauern geschätzten Teil der Geschichte: Die Beseelung des Volkes durch Jeanne (nicht d’Arc!), die in der Französischen Revolution endet.
„Belladonna der Trauer“ ist ein hochstilisierter, dionysischer Zeichentrickfilm für Erwachsene, der sich über Jahrhunderte hinweg mit (immer noch) aktuellen Themen beschäftigt. Von Rausch und Revolution, von Historie und Hysterie. Fabelhaft.

Trailer: http://www.youtube.com/watch?v=WWoaeSlAvxs

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