Re: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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gypsy-tail-wind
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gypsy tail wind

Vous n’avez encore rien vu (Alain Resnais, FR 2012)

Ich muss jetzt doch noch ein paar Worte zum Film von Resnais sagen – der ja möglicherweise auch sein eigener Abschied sein könnte – und ein passenderer ist kaum denkbar. Ein Vexierspiel, das mit grosser Leichtigkeit inszeniert wird. Diese Leichtigkeit war ja schon in seinem letzten, im besten Sinne altersstarrsinnigen Film „Les Herbes folles“ zu erfahren, hier ist sie wohl nochmal auf einem anderen Niveau angekommen.

Eine Truppe von etwas über einem Dutzend Schauspieler wird zusammengetrommelt in das Haus eines verstorbenen Regisseurs (Denis Podalydès, der aber als einer der ganz wenigen nicht als sich selbst auftritt), in verschiedenen Inszenierung von dessen Theaterstück „Eurydice“ – es handelt sich dabei um das frei adaptierte gleichnamige Stück von Jean Anouilh – sie alle mitgespielt haben: Sabine Azéma und Pierre Arditti als erstes Titelpaar, Anne Consigny und Lambert Wilson als deren Nachfolger der nächsten Generation, Matthieu Amalric und seine Fresse als Monsieur Henri, Michel Piccoli als Orphées Vater etc. Sie sollen, so der Plan des Regisseurs, sich Filmaufnahmen einer jungen Theatergruppe anschauen, die eben dieses Stück probt – es gibt also eine dritte Generation von Orphée und Eurydice, das Leben soll doch weiter gehen. Bald schon beginnen die Alten (Piccoli ist der erste und den darf man inzwischen getrost einen Alten nennen, ich tue das aber mit grosser Bewunderung), die Zeilen mitzusprechen bzw. nachzusprechen, wundersamerweise ist in den Filmaufnahmen immer genau lange genug Ruhe, als dass die Anwesenden die Zeilen wiederholen können, manchmal hören wir sogar – das Paar sitzt ja doppelt da – alles in dreifacher Ausführung. Bald schon verschwindet jedoch der Ton der Filmaufnahmen auf wundersame Weise, plötzlich finden sich Arditti/Azéma oder Consigny/Wilson in anderen Räumen – ein Raum-Zeit-Kontinuum gibt es nicht mehr, Resnais lässt alles auf wundersame Verschmelzen, die Leinwand wird manchmal zweigeteilt, später geviertelt, Amalric, der Spielmacher, spricht zugleich mit beiden Paaren, der Portier des Hotels der Probeaufnahmen spricht aus dem Film im Film mit den im Film real anwesenden Orphées und Eurydices – das alles ist Theater, Schauspiel in Essenz, die Räume sind meist völlig oder fast leer, auch wenn sie in satten Farben auftauchen sind sie kahl, Aussenhandlungen werden hie und da fein angedeutet, es gibt Botenberichte, aber der Raum – es sind mehrere, aber es bleibt doch immer derselbe – wird nie verlassen. Am Ende entpuppt sich das Spiel natürlich auch als Spiel im Spiel, aber Ernst wird es dann doch, denn einer geht ins Wasser – gleitet aus dem Leben, ganz sanft, als lege er sich schlafen, wie Amalric einmal sagt (ich zitiere sehr frei mit schlechtem Gedächtnis, pardon). Ein Abschied zu Lebzeiten ist das – gewiss würde ich mich riesig über einen, auch mehrere weitere Filme des einundneunzig Jahre Jungen Greises freuen, denn seine Filme sind noch immer einzigartig. Dennoch: sollte er ins Wasser gehen, sich schlafen legen, oder sich auch einfach nur zur Ruhe setzen – eine schönere Abschiedsvorstellung kann es nicht geben.

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