Re: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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Stranger Than Paradise
(Regie: Jim Jarmusch – USA, 1984)

Der Ungar Bela Molnar, genannt Willie, lebt seit zehn Jahren in New York. Seine 16jährige Cousine Eva, die gerade aus Ungarn gekommen ist, wohnt für zehn Tage bei ihm, um dann nach Cleveland weiterzufahren, wo sie bei ihrer Tante Lottie einziehen will. Nach anfänglicher Ablehnung ändern sich Willies Vorurteile Eva gegenüber langsam – er entdeckt in ihr eine Gleichgesinnte. Als er sie ein Jahr später zusammen mit seinem Freund Eddie in Cleveland besucht, beschließt er, sie zu sich zurück zu holen.

Ursprünglich bestand „Stranger Than Paradise“, die zweite Regiearbeit von Jim Jarmusch, nur aus einem Akt (den man im Featurefilm als „The New World“ zu sehen bekommt) und wurde auf Filmresten gedreht, die freundlicherweise Wim Wenders zur Verfügung stellte. Damit nicht genug, es floss noch etwas mehr Geld aus Deutschland, denn das ZDF beschloss im Rahmen seiner „Das kleine Fernsehspiel“-Reihe in die Produktion einzusteigen.
Deutscher Film? Deutscher Fernsehfilm gar? Kein gutes Omen, aber wer Jarmuschs Debüt „Permanent Vaction“ kannte, brauchte sich keine Sorgen machen.
Auch in „Stranger Than Paradise“ ist die Ziellosigkeit und Rumtreiberei der Figuren wieder ein Hauptbestandteil des Plots. Es wird gegammelt, rumgelungert, abgehangen, gechillt. Der Fokus liegt nicht auf der äußeren Handlung, spart die wenigen Entwicklungen der Geschichte fast vollständig aus und beobachtet vor allem die Protagonisten, speziell deren Wesenzüge und Äußerungen.
Schnell wird klar, dass Willie in seiner selbstbewussten, leicht bestimmerischen Art eher ein eingeschüchterter Immigrant ist, der vom Land seiner Eltern nichts mehr wissen will und das durch Überamerikanismus kompensiert. Er verteidigt die beschissene Esskultur in Form von TV Dinners, hängt einem Sport an, den er größtenteils durchs Fernsehen konsumiert und nicht befriedigend erklären kann, verdient sein Geld mit Pferdewetten und verbringt den Rest seiner Freizeit mit Karten kloppen und Bier trinken.
Ganz anders Eva, die bei ihrer Ankunft in New York mit einem Kassettenrekorder durch die Straßen läuft, der „I Put A Spell On You“ von Screamin‘ Jay Hawkins durch die heruntergekommene Gegend plärrt. Hier spürt man das ursprüngliche Amerika; das Amerika, das Country- und Bluesmusik hervorbrachte, das düstere, wilde Amerika, abseits der Mittelklassewohnghettos und dem ganzen „corporate bullshit“, der den Rest später verschlucken sollte. Kein Wunder, dass Willie diesen Song nicht ausstehen kann. Er erinnert ihn an seine oberflächliche Anpassung und an die Verleugnung von vielem, was ihn als Mensch ausmacht.
Durch die streng voneinander abgegrenzten Szenen, die Schwarzweißästhetik und die vielen Schwarzblenden wirkt „Stranger Than Paradise“ wie ein Fotoalbum, das durchblättert wird und kleine Erinnerungen weckt, die mit dem jeweiligen Bild zu tun haben. Die Kamera ist starr, bis auf wenige kleine Schwenks und eine längere Kamerafahrt zu Beginn, die Jarmusch so ähnlich (wenn auch exzessiver) in „Down By Law“ wiederholen wird, operiert sie stets von einem festen Platz aus und hält Willie, Eva und Ed auf Distanz.
Was zuerst karg, unterkühlt und etwas mechanisch wirkt, zuweilen gar eingerostet, birgt unter der Oberfläche den lakonischen Witz, für den man Jarmusch liebt. Bei allen beiläufigen Gags, sowie den offensichtlicheren, lustigen Momenten, bleibt das Gefühl bestehen, ein gestelltes Postkartenmotiv anzuschauen. Manche wollen einen besonderen Realismus in „Stranger Than Paradise“ erkennen, ich sehe vor allem Posen und durchkomponierte Bildmotive, die einen leicht verzauberten/verschrobenen Touch haben. Der sparsam instrumentierte und ebenso sparsam eingesetzte Filmscore von John Lurie verstärkt diesen Eindruck noch.
Bevor der Zuschauer mit der ironischen Schlusspointe aus dem Film entlassen wird, darf man sich noch über einen „Deus ex machina“-Moment mit HipHopper Rammellzee freuen/wundern, der so wunderbar unmotiviert und zum Schluss völlig unbrauchbar ist, dass er der größte Witz in diesen 85 Minuten sein könnte.
Drei Menschen (darunter mindestens einer, der die US-amerikanische Sicht der Dinge hinterfragt), durch familiäre oder freundschaftliche Bande verbunden, sind eine Weile unterwegs, ohne sich besser kennenzulernen, ohne ihre Beziehungen vertiefen zu können und werden zum Schluss in alle Winde verstreut. Ein echter Jarmusch.

Trailer: http://www.youtube.com/watch?v=MwefGellnhk

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