Re: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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Bad Boy Bubby
(Regie: Rolf de Heer – Australien/Italien, 1993)

Seit 35 Jahren hält Mom ihren Sohn Bubby in der heruntergekommenen Ein-Zimmer-Wohnung unter Verschluss. Sie teilt Bad und Bett mit ihm und ist der einzige Mensch, den er kennt. Tagsüber allein gelassen und kaum fähig zu sprechen, kennt er weder Radio noch Fernseher und weiß nichts über den Rest der Welt jenseits der Tür. Als sein Vater nach all den Jahren überraschend wieder auftaucht, und auch wieder in Moms Bett zurückkehrt, kommt es zum Eklat. Nun steht Bubby vor der größten Herausforderung seines Lebens: dem Schritt über die Schwelle der eigenen Haustür. Es ist an der Zeit, sich die Welt da draußen anzusehen…

In der ersten halben Stunde von Rolf de Heers „Bad Boy Bubby“ erhalten wir einen trostlosen Blick auf das Leben eines verwahrlosten Mannes, der von seiner dominanten Mutter in eine künstliche Deprivation gezwungen wurde, dadurch auf der geistigen Entwicklungsstufe eines Kleinkindes geblieben ist und dies durch Macken und Ticks zu kompensieren versucht.
Er ist seiner Mutter in der heruntergekommenen Wohnung, die dreckig, düster und ohne Tageslicht brachliegt, ausgeliefert; nicht mehr als ein Sexspielzeug im Käfig, das Mama ab und zu wäscht und füttert.
Wie alle Kinder lernt Bubby vor allem durch Nachahmung. Aufgrund des trostlosen und eindimensionalen Vorbilds, gibt er die Gängeleien und Misshandlungen einfach an das nächst kleinere Lebewesen weiter. Eine Katze wird das ständige Opfer seines (unbewussten) Sadismus. Diese Szenen waren ein Grund für das BBFC „Bad Boy Bubby“ nur als gekürztes Homevideo im Verkehr zu lassen, bis Rolf de Heer nachwies, dass keine echten Katzen getötet (in Plastikfolie erstickt) wurden. Aber auch so sollte man es sich zweimal überlegen, „Bad Boy Bubby“ auf dem Gabentisch eines Katzenfreundes zu platzieren.
Zu dieser Zeit kommt der Film vollkommen ohne Musik aus, nur eine ständige, bedrohliche Klangkulisse im Hintergrund und die spärlichen Dialoge sind zu vernehmen.
Sobald die Lage durch die Ankunft von Bubbys Vater, einem versoffenen Pfarrer, nach mehr als 30 Jahren eskaliert, tötet Bubby seine betrunkenen Eltern auf die gleiche Weise, wie er auch schon die Katze umbrachte. Er lebt noch einige Zeit mit den Leichen, doch dann schlagen Hunger und Durst die Konditionierung durch seine Mutter, die ihm als Kind beibrachte, dass er in der Außenwelt ersticken, und wenn das nicht geschähe, Gott ihn richten würde. (In der Behausung der Familie kann man eine kopflose Jesuspuppe an einem Kreuz hängen sehen. Der Kopf wird für die primitiven Bedürfnisse in diesem Haushalt nicht gebraucht, alles funktioniert alleine über Körperfunktionen und Instinkte.)
So stellt sich der völlig verängstigte Bubby schließlich der Welt, die ein bezauberndes Wunder für ihn bereithält: Musik. Nachdem er anfangs eine eher schlechte Erfahrung machen musste, gewinnt er durch einen Straßenchor der Heilsarmee und dessen Musik nicht nur eine fast spirituelle Erfahrung, er lernt sogar Pizza, sowie Sex abseits der Vergewaltigung durch seine Mutter kennen. Überhaupt findet Bubby überraschend schnell Anschluss.
Die Personen in der „neuen Welt“ sind überwiegend Stellvertreter und Platzhalter für Bereiche, die der Zuschauer aus seinem eigenen Leben kennt, also eher Symbole (manchmal vielleicht sogar Archetypen) als „normale Leute“. Sie sind Bubby zum größten Teil wohlgesonnen und gerade wegen seines simplen Gemüts hat er kaum Schwierigkeiten sich in die bestehende Gesellschaft einzufügen. Er imitiert noch immer Sprache und Handlungen der Leute, die durch ihre Doppelbödigkeit zu einigen komischen Situationen und Verwicklungen führen. Wenn auch zurückgeblieben, so ist Bubby nicht auf den Kopf gefallen und weiß sich zu helfen.
Über Umwege wird er erst Mitglied einer Post Punk-Band, dann zum Kommunikator in einer Einrichtung für körperlich und geistig behinderte Menschen, wo er sich in eine Betreuerin namens „Angel“ verliebt. (So ganz kann er die Prägung durch seine Mutter nicht abschütteln, Bubby hat ein ausgesprochenes Faible für große, mütterliche Brüste.)
Die Teile des Films mit der Band stellen auch einen amüsanten Ausflug in die Fragestellung dar, ob nun die Kunst das Leben oder das Leben die Kunst imitiert – oder ob Kunst und Leben in einer stetigen Wechselwirkung stehen. Macht Kunst die Grausamkeiten des „echten“ Lebens wirklich goutierbar?
Die zwei schönsten Szenen in „Bad Boy Bubby“ beschäftigen sich mit Religion. Zum einen lauschen wir dem Monolog eines atheistischen (!) Kirchenorganisten, der in einem großen Kraftwerk über die Unmöglichkeit eines Gottes doziert, zum anderen wird Bubby anhand des ihm gut bekannten Beispiels des Todes durch Plastikfolie die Beziehung der Weltreligionen untereinander klargemacht. („It is the duty of all human beings to think God out of existence.“, „No more clingwrapping!“)
Sieht es zu Beginn noch so aus, als würde Wilhelm Reichs Aphorismus, der ihm von Otto Muehl zugesprochen wurde, – „Die Familie ist die Brutstätte aller Geisteskrankheiten“ – sich im Laufe der Handlung bestätigen, genießt der Zuschauer ein irritierendes, vielleicht auch hämisch-grinsendes Over the top-Kitschfinale, das einen mit seinen eigenen Erwartungen an die Welt konfrontiert, wie man zuvor auch schon mit der manchmal verstörend liebenswerten Art und Weise wie mit Buddy umgegangen wird, konfrontiert wurde.
„Bad Boy Bubby“ ist eine Tragikomödie voll schwarzem Humor, die die verschiedenen Bereiche unseres Lebens erforscht und erörtert, zwar aus der Sicht eines zurückgebliebenen Kindes, deshalb aber nicht weniger treffend und scharfsichtig. Gleichzeitig ganz große Unterhaltung, wie auch Gesellschaftsporträt oder einfach durchgeknallter Kultfilm mit Zuckergussende. Beautiful.

Trailer: http://www.youtube.com/watch?v=YXZ4u2ZVWOc

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