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Clean, Shaven
(Regie: Lodge H. Kerrigan – USA, 1993)
Zur selben Zeit, als der schizophrene Peter Winter wieder in sein Heimatnest zurückkehrt, um seine Tochter, die vor Jahren von einer anderen Frau adoptiert wurde, zu finden, muss die Polizei mit Morden an kleinen Mädchen, im gleichen Alter wie Winters Tochter, fertigwerden. Auf der Suche nach seinem eigenen Fleisch und Blut muss Winter gegen sich selbst, seine Angst und seinen geistigen Zustand ankämpfen…
Schizophrenie bzw. die dissoziative Identitätsstörung ist in vielen Horrorfilmen und Thrillern ein bequemer Ausweg für Drehbuchautor und Regisseur, um Motive von Tätern „plausibel“ zu machen. Warum mussten die Opfer sterben? Warum trug der Mann beim Morden Frauenkleider? Wieso steht da diese Axt in der Abstellkammer? Na, weil er/sie/es schizophren ist, schizophren ist, schizophren ist! Niemand weiß ganz genau, was es mit der Krankheit überhaupt auf sich hat, und so lässt sich das Publikum spätestens seit Hitchcocks „Psycho“ mit dieser Begründung abspeisen. In Matt Ruffs Roman „Ich und die Anderen“ kann man auf eine übliche Darstellungsform treffen: Die verschiedenen Persönlichkeiten leben zusammen unter einem Dach, das sich als Kopf der Hauptperson herausstellt.
„Clean, Shaven“ geht einen völlig anderen Weg, um das Leben und Erleben eines Schizophrenen abzubilden. Zuerst wirft Regisseur Lodge H. Kerrigan die absurde Vorstellung über Bord, dass alle Schizophrenen eine Gefahr für die Gesellschaft seien. Sein Film lässt sich mit etwas bösem Willen zwar auch in diese Richtung deuten, dies setzt aber ein grobes Zurechtbiegen der Bilder, die uns gezeigt werden, voraus. Eigentlich sind die von einer so gut wie starren Kamera eingefangenen Szenen nicht unbedingt das Haupttransportmittel für die Gefühle und Gedanken der Hauptfigur Peter Winter (hervorragend gespielt von Peter Greene), sondern die psychosonische Tonspur, die Alltagsgeräusche, Tierlaute, statisches Rauschen und das Gedudel des Radios mit unterschwelligen Botschaften vermischt und eine sirrende und flirrende Atmosphäre erzeugt, die den Zuschauer den Zustand Peter Winters am eigenen Körper erleben lässt. Telefon-, Rundfunk- und Strommasten beherrschen die Bildkomposition und zerschneiden mit ihren Drähten die Wirklichkeit, dringen als Störelement ins Bewusstsein des Betrachters. Sie funken dazwischen, so wie Peters Verstand immer wieder dazwischenfunkt: Aus der Erinnerung, aus sich selbst heraus oder aus missgedeuteten und verfremdeten Begebenheiten des Alltags.
Dieser Mann leidet. Er ist alleine, er fühlt sich verfolgt und handelt paranoid. Vermutet man zu Beginn noch einen krankhaften Wasch- oder Sauberkeitszwang, der ihn zu autoaggressivem Verhalten treibt, stellt sich später heraus, dass sein Aufenthalt in einer Nervenanstalt damit zusammenhängt. Er erträgt den Anblick des eigenen Spiegelbilds nicht (Spiegel sind im Kino schon lange ein manifestierter Ausdruck von einem zerrissenen Innern), folglich klebt er den Rückspiegel seines Autos ab, zerstört die Außenspiegel und die Frontscheibe und hängt die restlichen Fenster mit Artikeln aus Revolverblättern zu.
Seine Krankheit macht eine normale Interaktion mit der Gesellschaft nicht möglich. Wenn man ihm nicht ohnehin aggressiv begegnet, bekommt Peter Misstrauen und Ablehnung, gelegentlich auch Furcht zu spüren. Selbst nahe Verwandte wie seine Mutter halten ihn auf Distanz, vor allem auch von seiner Tochter, weil sie in ihm nicht mehr sehen, als ein missratenes Kind, das nicht in der Lage war, die ihm angebotenen Früchte des Lebens zu pflücken.
„Clean, Shaven“ bedient zwar mit einem oberflächlichen Thrillerplot, um einen Polizisten und einen Mord an einem kleinen Mädchen, die durchs Kino beförderten Vorurteile gegenüber Schizophrenen, nutzt dies aber letztendlich nur als Vehikel um ein eindringliches Portrait eines Erkrankten zu zeichnen, das weniger von der narrativen Ebene lebt, sondern vom Ausdruck der durch die Krankheit geschaffenen seelischen Verfassung des Protagonisten. Dazu trägt die im Hintergrund gehaltene, düstere und unheilsschwangere, im ursprünglichsten Sinne psychedelische Filmmusik bei, welche die sowieso schon ausgefallene und starke Tonspur unterstützt.
Ein außergewöhnlicher Film, ein bewegendes Erlebnis und eine faszinierende Reise an die Außenränder einer Erkrankung, die in unserer Gesellschaft entweder ausgeblendet oder als simpelster Kintopp verwurstet wird.
Trailer: http://www.youtube.com/watch?v=6aInRjIwjpU
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