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Poor Cow
(Regie: Ken Loach – Großbritannien, 1967)
Bei ihren unzulänglichen Versuchen, einen kleinen Zipfel Glück zu erhaschen, gerät eine junge Frau aus den Londoner Slums immer wieder an den falschen Mann. Zuletzt ringt sie sich dann doch zu einem Ansatz eigener Erkenntnis und positiver Lebenseinstellung durch…
„The poor cow“ bedeutet im britischen Englisch etwa „die Ärmste“, „cow“ ist aber auch eine herabsetzende Bezeichnung für eine Frau und entspricht etwa dem Begriff „Weibsstück“, „to cow sb.“ wiederum heißt jemanden einzuschüchtern, um ihn dazu zu bringen, etwas bestimmtes zu tun.
Der Titel von Ken Loachs erstem Kinofilm ist damit schon passend gewählt, erzählt er doch die Geschichte von Joy, einer jungen Frau aus dem englischen Arbeitermilieu, das die Kinks in „Dead End Street“ so treffend beschreiben:
There’s a crack up in the ceiling, And the kitchen sink is leaking. Out of work and got no money, A sunday joint of bread and honey. What are we living for? Two-roomed apartment on the second floor. No money coming in, The rent collectors knocking, trying to get in.
Passenderweise nennt man diese Filmgattung in England auch „kitchen sink drama“.
Joy riss von zuhause aus, um mit Tom, gespielt von der zwielichtigen Unterwelterscheinung John Bindon, zu leben, sie heiratet ihn und bekommt mit ihm einen Sohn namens Johnny. Kurz darauf muss Tom wegen einem seiner zahlreichen kleinkriminellen Vergehen in den Knast und Joy ist als alleinerziehende Mutter auf sich selbst gestellt. Nach kurzer Zeit lernt sie erneut einen jungen Mann kennen, wiederum einen Ganoven. Die Lebensumstände in den trostlosen Orten Englands, die von Arbeitslosigkeit heimgesucht werden, lassen keine andere Möglichkeit der Geldbeschaffung zu. „Und ohne Geld bist du nichts!“ wie Tom immer gerne betont.
Ihr neuer Freund heißt Dave und kümmert sich um ihren Sohn, außerdem zeigt er eine naturverbundene und künstlerische Ader.
Die Musik im Film wurde von Donovan geschrieben und Dave-Darsteller Terence Stamp singt eine eigentümliche Version von „Colours“, man kann zudem noch andere Pop-Musik der Zeit entdecken, etwa Songs der Lovin‘ Spoonful oder der Rolling Stones.
Aber auch dieses Glück hält nicht lange und Dave wandert für einen schweren Raubüberfall zwölf Jahre ins Gefängnis.
Joy versucht sich mit einem Job als Kellnerin über Wasser zu halten, rutscht jedoch immer mehr ab, indem sie erst einen dubiosen „Modeljob“ für ältere Lüstlinge annimmt, um sich dann später ebenfalls zu prostituieren. Eigentlich möchte sie auf ihren Liebsten warten, um ihn in die Arme zu schließen, wenn die Gefängnismauern ihn wieder freigeben, doch es scheint ihr unmöglich so lange Zeit ohne andere Männer zu leben.
Ken Loach stellt das Leben als einen ewig währenden Kreislauf der Rückschläge und kleinen Mühseligkeiten dar und bemüht sich um eine unaufgeregte und realistische Darstellung, die auf Hollywoodkapriolen im Drehbuch völlig verzichtet. Es geht ihm eher um einen Einblick in das Milieu, als um eine spannende Geschichte, die in einem triumphalen Finale endet. Dies gelingt ihm.
„Poor Cow“ trägt fast schon Züge einer Dokumentation, wozu die nüchterne Betrachtungsweise, das Voice-Over der Hauptdarstellerin und die „Interviews“ mit Joy zum Schluss von „Poor Cow“ beitragen. Ähnlich wie Jean-Luc Godard benutzt Loach Zwischentitel, die folgende Situationen einleiten oder in einen ironischen Kontext stellen.
„Poor Cow“ von Ken Loach: Als hätten sich die „Two Sisters“ auf der „Dead End Street“ von Ray Davies filmisch vermählt.
Ausschnitt (Terence Stamp interpretiert „Colours“): http://www.youtube.com/watch?v=rKOwXAMyFtM
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