Re: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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motoerwolf

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Harry RagBarracuda – Vorsicht Nachbar!
(Regie: Philippe Haïm – BEL/GER/FRA, 1997)

Wer schon einmal längere Zeit alleine und weitestgehend ohne regelmäßigen, tiefergehenden Kontakt nach außen gelebt hat, weiß um die Macken, die man in solch einer Lebenssituation entwickeln kann, welche aber oft erst zutage oder ins Bewusstsein treten, wenn man wieder mit anderen Menschen zu tun hat.
In Philippe Haïms fantastischem Debüt gipfelt eine solche jahrelange Vereinzelung in Geiselnahme und Psychoterror. Dabei kann man dem Entführer Clement zuerst gar nicht böse sein, da seine mit faszinierenden Dekors versehene Wohnung und seine Besessenheit von Fred Astaire ihm eher als liebenswerte Schrullen ausgelegt werden können. Schräg wird es zum ersten Mal, als er auf einem Abendessen mit seiner Frau besteht, die sich als Schaufensterpuppe herausstellt. Nun hält man ihn für etwas derangiert, aber immer noch nicht für bösartig. Dies ändert sich, als die Stimmung des Films kippt und aus dem makaberen Humor bitterer Ernst wird: Luc endet mit Handschellen gefesselt an einem Waschbecken, Clement sprüht ihm den Inhalt eines Feuerlöschers ins Gesicht, bevor er diesen zweimal gegen Lucs Schläfe schlägt.
Von hier an (und nach seiner Genesung von der Attacke) entwickelt der Gefangene immer wieder Fluchtstrategien, lässt sich auf die Phantastereien seines Peinigers ein und versucht ihn damit einzulullen, auszutricksen und zu übertrumpfen. Die Stimmung bleibt stets schwankend, die Psychospielchen tragen dazu bei, dass der Film hin und wieder abrupt eine neue Richtung einschlägt, jedoch nicht mehr so krass wie während des Angriffs mit dem Feuerlöscher.
Haïm taucht dies einmal in einen kalten, bläulichen Farbton, andere Szenen finden in einem wärmeren, rötlichen Farbton statt, das ruft manchmal ganz leichte Erinnerungen an „Suspiria“ wach, auch die Spieluhrmusik kann dazu beitragen.
Für ein Erstlingswerk bietet „Barracuda – Vorsicht Nachbar!“ geradezu eine unheimliche Stilsicherheit und Konsequenz, umso enttäuschender ist es, dass Haïm danach nur noch zwei Filme drehte und einer davon eine Gurke wie „Die Daltons gegen Lucky Luke“ war. In einer Nebenrolle sieht man die bildhübsche Claire Keim („Ripper – Briefe aus der Hölle“) als Lucs Freundin, zudem Jean Rochefort („Das Gespenst der Freiheit“) als Clement, eine wundervolle Darbietung. Vorsicht: exquisit!

Trailer: http://www.youtube.com/watch?v=sr5CcHiFABU

Wie so oft, eine tolle Rezension. Den Film habe ich damals in einer Sneak-Preview gesehen. Selten habe ich so viele Leute ein Kino verlassen sehen, weil ihnen der Film zu krass war, wie in diesem Fall. Ich dagegen war schwer begeistert, und es tut mir immer leid, daß der Film so unbekannt geblieben ist.

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And all the pigeons adore me and peck at my feet Oh the fame, the fame, the fame