Re: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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Henry – Portrait Of A Serial Killer
(Regie: John McNaughton – USA, 1986)

In einer heruntergekommenen Wohnung in Downtown Chicago lebt Henry zusammen mit seinem Freund Otis. Während Otis sein täglich Brot mit kleinen Gaunereien verdient, geht Henry in seiner Frustration als eiskalter Serienmörder um. Nachdem sich Otis geschiedene Schwester in Henry verliebt, nimmt das Schicksal seinen Lauf…

Weil die MPAA, die US-Zensurbehörde der Filmwirtschaft, John McNaughtons Film ein kommerziell vernichtendes X-Rating ausstellte (damit steht der Film in etwa auf einer Stufe mit Pornographie und die wenigsten Kinos nehmen ihn in ihr Programm auf), verstaubte „Henry – Portrait Of A Serial Killer“ für drei ganze Jahre im Regal, bis sich der Organisator eines Filmfests erbarmte und ihn einem breiteren Publikum zugänglich machte, darunter Filmkritiker Roger Ebert, der sofort Feuer und Flamme für McNaughtons Beitrag zum Serienkiller-Film war.
Das Drehbuch orientiert sich grob an den Vorkommnissen im Leben des echten Serienmörders Henry Lee Lucas, der vor allem dadurch berühmt wurde, dass er nach seiner Verhaftung hunderte von Morden gestand, ihm aber nur die wenigsten auch zugeordnet werden konnten. Es ist beileibe kein biographisches Werk, dafür nimmt sich John McNaughton zu viele Freiheiten, aber selbst Otis und Becky kommen im echten Leben des Henry Lee Lucas vor, wenn auch in anderer Gestalt und anderer Funktion.
Beeindruckend ist die nüchterne Umsetzung des Themas, hier hat der Killer wenig Glamour, er ist ein einfacher Mensch aus der Arbeiterklasse, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält und sich abends mit Alkohol sediert. In einer Szene wird angedeutet, dass Henry ein Analphabet ist. Sein Kumpel Otis verbringt seine Tage damit Drogen zu verkaufen und ins TV zu glotzen, er ist noch auf Bewährung. Tatsächlich lernte er Henry im Knast kennen.
Kurz bevor der Film gedreht wurde, kamen die ersten erschwinglichen Camcorder auf den Markt, McNaughton lässt seine Charaktere solch ein Gerät erstehen, um ihre Taten aufzuzeichnen (inklusive einer schönen Parodie auf Familienvideos, die man mit „Psycho“ von den Sonics unterlegte). Gleichzeitig nutzt er den trostlosen Look dieses Geräts auch für „Henry“; der vollkommen gleichgültige und emotionslose Dokumentarcharakter der Kamera fängt nicht nur das Grauen kommentarlos ein, er zeigt auch, dass Henry gar kein schlechter Kumpel ist, ein netter Typ, wenn er nicht gerade jemandem die Kehle durchschneidet.
Wenn Henry und Otis (vor allem Otis) dann abends vor dem Fernseher sitzen und sich die Videotapes ihrer letzten Morde (teilweise in Zeitlupe) ansehen, fragt man sich erst wie abnorm man für solch eine Handlung sein muss, bis man sich dabei ertappt, dass man gerade selbst vor der Glotze sitzt und sich die Taten anschaut. Diese werden im Laufe der Spielzeit immer brutaler, verkommen aber nie zu einem Gorefest, trotzdem ist „Henry – Portrait Of A Serial Killer“ ausschließlich ein Film für Erwachsene. Mit den kultigen Slasherkillern wie Michael, Jason oder Freddy hat Henry nichts gemein: Die Morde lassen das Publikum nicht jauchzend sein Popcorn verschütten, sie verkommen nicht zu „Kills“, einem Bodycount, bei dem man gierig auf den nächsten Anschlag des Maskenmörders wartet.
Der von Michael Rooker grandios dargestellte Henry hat seine eigene Philosophie übers Töten: Wenn es juckt, muss man kratzen, sollte sich aber ein Opfer suchen, zu dem man keinen Bezug hat, niemals eine Waffe zweimal benutzen – und immer in Bewegung bleiben.
Dass es bei soviel Gleichgültigkeit und Elend nicht zu einem glücklichen Ende kommen kann, liegt auf der Hand. Die Dreiecksbeziehung zwischen Becky, Henry und Otis gibt den entscheidenden Anstoß für die Katastrophe, die sich leise anbahnt. Meisterwerk.

Trailer: http://www.youtube.com/watch?v=IU3P6WXzvXU

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