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Napoleon DynamiteMurder On The Orient Express von Sidney Lumet
Keine Agatha Christie, nichtmal eine klassische Kriminalgeschichte im eigentlichen Sinne, sondern eine linguistische Versuchsanordnung, eine Studie in filmischer Bewegung und eine Riege an Schauspielern, die wie unterschiedliche Farbtöne auf der Leinwand angebracht werden. Hätte er ein Bewußtsein für amerikanische Erzählstrukturen gehabt, wäre der Film von Alain Resnais ziemlich exakt in der gleichen Weise inszeniert worden. Große Klasse.
Napoleon DynamiteLumets Film konzentriert sich ja nicht so sehr auf den Kriminal-Plot, auch wenn er ihn intakt lässt, sondern auf die klanglichen Tonfarbenunterschiede der zahlreichen Sprachen (jede Figur mit ihrem ganz eigenen kauderwelschend-gemurmelten Gebrabbel, fast wie in „Inglorious Basterds“), die inszenierte Dynamik des Zuges einerseits und die Bewegungen der Protagonisten selbst darin andererseits (was ganz toll ineinander greift, wo hat man schon mal Filme, in denen Bewegung tatsächlich so nun ja… beweglich sichtbar wird?). Die Entlarvung des Mörders ist ja deswegen auch kein blosses Whodunnit, sondern eine ziemlich lustvolle, filmische Verbindung aller Darsteller: Wie Farben, deren einzelne Charakteristika zunächst stark aufgetragen werden und dann zum Schluss auf der Leinwand zusammenfliessen.
So wenig Agatha Christie würde ich nicht sagen. Klassischer Aufbau der Geschichte. Eine Hand voll Personen an einem Ort, der sie einnimmt und so wie der zeitliche Rahmen begrenzt ist. Das Mordopfer die Person, die man am wenigsten leiden kann und die Verdächtigen alle irgendwie mit ihm verbunden. Nach und nach werden Geheimnisse preisgegeben, menschliche Abgründe öffnen sich und die illustre Gesellschaft rückt mit einem Male in ein anderes Licht.
Aber ich möchte hier keineswegs kritisieren, habe ich doch noch keinen so über den Film reden gehört. Und den Film so auch noch nie gesehen. Wirklich, sehr schön.
Als ich den Film das erste Mal gesehen habe, war ich noch zu jung, um die Geschichte in ihrem Ganzen aufzunehmen und die Lösung zu deuten, blieb für mich zu diesem Zeitpunkt doch offen, wer es nun tatsächlich getan hatte.
Jahre und einige Agatha Christie-Bücher später, konnte ich den Gedanken leicht nachvollziehen, war aber noch zu ungeschult, die Tiefen und Schattierungen der Darsteller, die Farben und Blickwinkel wahrzunehmen und die Aussage dahinter zu erkennen.
Nach Filmvorlesungen und Retrospektiven in kleinen Kinos schärfte sich zwar mein Blick etwas, war aber vermutlich mit dem Kopf zu sehr in den Büchern oder schätzte, trotz Starbesetzung, nur Finneys Interpretation der Rolle nicht so sehr wie die Ustinovs, der andere Details des Charakters Poirots in den Vordergrund rückte, oder später die Verkörperung durch Suchet, um die oben genannten Details zu sehen.
So kann ich nun vielleicht nur ergänzen, dass sich die Dynamik der Bewegungen der Protagonisten verstärkt als der Zug, der eigentlich die große Bewegung vollführen sollte, im Schnee steckenblieb.
Wie gesagt, interessante Sichtweise. Werde mir den Film wieder einmal zu Gemüte führen. Und ihn ein weiteres Mal mit anderen Augen sehen.
Hätte mich nur noch interessiert wie Lumet „And then there where none“ interpretiert hätte. Zehn Personen auf einer Insel. Alle mit Vergangenheit. Das Wetter, das sie an diesem Ort festhielt. Der Zeitpunkt als den Gästen klar wurde, dass es keine Party ist. Die Konfrontation mit dem eigenen Gewissen. Die Figuren am Tisch….. Großes Kino. Im Kopf.
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