Re: Song des Tages Vol. II

#4234977  | PERMALINK

irrlicht
Nihil

Registriert seit: 08.07.2007

Beiträge: 31,735

[B]Lana del Rey Video games

Das Zwiebelsystem.

Bis mir eines schönen Tages im Februar oder März mal „Born to die“ in die Hände fällt, bleibt noch ausreichend Zeit, sich alleinig an diesem beeindruckenden Track zu sättigen. Und das ist er wirklich, „Video games“ hat mich vom ersten Augenblick an fasziniert.

Streicher entfliehen einem detonierenden Ton, eine Harfe klimpert huschend durch die Luft, eine Glocke ertönt; nach wenigen Sekunden schält sich Grants Stimme aus dem Dunkel – eine geschmeidige, gedämpfte Stimmung spannt sich auf, wie konzipiert für Soundtracks mit flimmerndem Unterton; ein warmkaltes Klangschaumbad zu schwüler Umgebungstemperatur. „Video games“ gleicht einem prunkvollen Gemälde, das von der gegenläufigen Seite im Spiegel betrachtet wird: Verändert man den Winkel im Stand etwas, wird aus Bittersüßheit Tragik, noch etwas weiter bewegt und der Song gleicht Verstörung; und wieder auf 0° zurück, entführt Lana del Rey in den mädchenhaften Kosmos einer unschuldigen Jugendromanze. „Video games“ besitzt eine ganze Reihe von Gesichtern – würde man nicht auf den Text achten, könnte die intense Getragenheit und spürbare Schwere von allem handeln: Von tragischem Tod, einer zerklüfteten Beziehung, zerrüteten Familien, nostalgischen Kindheitserinnerungen – von Krieg, der zu angeschossen trabendem Schlagzeug und vollem Pathos Bilder von brennendem Wasser, schwirrenden Jägern und angetrocknetem Blut heraufbeschwört; aber auch von dem, von was er tatsächlich handelt: Der Liebe als höchste Instanz, für die alleinig es sich zu leben lohnt. Erinnerungen an einen warmen Sommer, an Bier und Videospiele, Parfüm und aufreizende Kleider, Ode an unvergessliche Nächte.

Das ist alles umso beeindruckender, als dass der Song im Grunde ein struktureller Hungerhaken ist:
Da ist wenig markant Kunstvolles dran. Ein klassisches Strophe-Refrain Gefüge, eine schmachtende, zuweilen fast träge Melodie – nichts, was Aufsehen erregen müsste. Was aber unwesentlich wird – denn Grants Umgang mit Arrangements und Schatturen ist einfach entwaffnend. Lage über Lage legen sich Gewänder um die zierliche Struktur, edles Samt, Perlen, ein Goldkranz entlang des Haupts, eine Rose im Haarschopf. Ein Musterbeispiel für farbenvolle Gestaltung. Obenauf besitzt del Rey aber auch stimmlich einige Vorzüge. Allein schon, weil sie erkannt hat, dass Gesang auf vielen Instanzen funktionieren kann – es bedarf keinem gewaltigen Stimmumfang. Die Stimme gleicht hier einem auktorialen Erzähler, der eine Satzfolge mit kleineren Abwandlungen immer wieder wiederholt und sich im richtigen Moment als Hauptperson erkennbar macht. So entsteht mit einem kurzen Aufhellen der Stimme ein Riß im Gebilde von „Video games“: Ein kurzer Moment, in dem sich Distanziertheit und volle Involviertheit kreuzen.

--

Hold on Magnolia to that great highway moon