Re: Song des Tages Vol. II

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irrlicht
Nihil

Registriert seit: 08.07.2007

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“Am Tag meiner Geburt im Jahr 1978 gab es einen totalen Stromausfall, ich kam um drei Uhr in der Früh beim Schein von Taschenlampen zur Welt. Deshalb schreibe ich nächtliche Musik…das war schon immer so und wird wohl auch ewig so bleiben.”

Anna Ternheim und das Porträit einer schwedischen Winternacht: Frischer Schnee, der sich bis hoch zu den Spitzen anhebt, umgebende, klirrende Kälte unter ultramarinem Himmel. Leichter Wind, der das Weiss anhebt und dabei zu glänzen beginnt. Und ein Song, ein Gedanke, der sich im Dunkel verirrt.

“No, I don’t remember“
ist meisterlich – ein schlicht gehaltener Titel, der nur von Gitarre, Schlagezug und Cello getragen wird und dennoch seinen kühlen, stattlichen Korpus formt. Das Arrangement ist dabei ganz fantastisch: Aus langsamen, immer wieder wiederkehrenden Mustern spannt sich vom ersten Ton ein dreidimensionales Spannungsfeld – Ternheim verzichtet auf klassische Bögen. Und auf auflösende Momente. „No, I don’t remember“ ist ein unruhiger Song, in sich selbst verschlungen, zu Ende gedacht zwar – und doch mehr wie ein Schattenbild eines durchdachten Konzepts.

Der hingetupfte, skizzenhafte Charakter ist aber so abwegig nicht: Ternheim reist durch Vergangenes, durch die Zeit, in der es keine Zeit gab. „The secret codes and signs, you and I, and eye to eye“ – aus der Zeit wurde Gold, aus Gold, Erinnerung. Hier setzt „No, I don’t remember“ an, am Rekonstruieren, am Wiederleben eines entfernten Gefühls. Ternheims Stimme könnte dazu nicht entschiedener sein: Emphathisch singt sie Wort für Wort, einer Beschwörungsformel gleich, mit viel Luft, gebrechlich und doch ausdrucksstark. Manchmal fühle ich mich an Nina Nastasias letztes Werk erinnert, manches Mal an „Folklore“, das Abschlusswerk der 16 horsepower. Und wäre „No, I don’t remember“ nicht dauerhaft im Trockeneisnebel verhüllt, könnte man sich auch an den einen oder anderen Titel Beth Ortons, „Devil’s song“ etwa, erinnert fühlen.

Wie auch immer: Großer Song. Subtil, nachtwandlerisch, auf den Punkt gebracht – und magisch genug um sich immer wieder auf die Reise durch zerbrechendes Eis zu machen. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

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Hold on Magnolia to that great highway moon