Re: Der Wert von Musik an sich

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santander

Registriert seit: 22.09.2005

Beiträge: 1,654

So, ich habe mich nun beinahe durch den gesamten Thread gekämpft, und nun bleibt kaum noch etwas zu sagen übrig, da ja schon nahezu alle Standpunkte vertreten wurden ;) Vorweg vielleicht was zur vieldiskutierten „Verflachung“ und zum Niveau des Threads: Ihr liegt hier mit dem Niveau bereits weitaus höher als so manches andere Internetforum, also besteht noch lange kein Grund zur Besorgnis. ;) Abhandlungen im Sinne von Benjamins „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ o. ä., die ja doch nur von Spezialisten geschrieben und rezipiert werden könnten, sind in einem öffentlichen Internetforum ja auch kaum zu erwarten.

Zum Thema: Der „Wert von Musik an sich“ existiert natürlich unabhängig von jedem Tonträger und jedem Notenblatt. Er ist als Wert physisch vollkommen unfassbar, ein rein geistiges Phänomen – wie das der Wert literarischer Kunstwerke ja auch ist. Eine griechische Tragödie ändert ihren Wert nicht, ob sie nun in einer Prachtausgabe oder aber als Reclam-Heftchen oder gar auf einer CD als PDF-Datei vorliegt.

Worüber hier nun aber mittlerweile diskutiert wird, scheint mir etwas Anderes zu sein: Einerseits gibt es den formatunabhängigen „Wert an sich“, andererseits aber den Wert einer bestimmten Reproduktion, einer Kopie, eines bestimmten Exemplars. Wie eben ein besonders kunstvoller Buchdruck oder eine seltene Erstausgabe einen besonders hohen Wert hat, der nicht mit dem „literarischen Wert des Textes“ identisch ist. Dieser andere Wert mag ja mit dem ersten irgendwie zusammenhängen, ist aber nicht schon identisch mit ihm. Um beim Bücherbeispiel zu bleiben: Der Text der „Kritik der reinen Vernunft“ etwa spricht noch immer mit höchster Aktualität zu uns, besitzt einen hohen Wert, der jedoch keineswegs mit dem einer Erstausgabe dieses Werkes identisch ist. Beides sollte daher zunächst auch unabhängig voneinander untersucht werden.

Auf die sogenannte populäre Musik bezogen: Eine alte Schallplatte, vielleicht eine Original-Schellack von Jimmy Rodgers, Patsy Montana oder der Carter Family hat einen ganz eigenständigen Wert, der zunächst unabhängig vom Wert der darauf befindlichen Musik betrachtet werden sollte. Um seltene Exemplare können sich Legenden ranken, bestimmte Formen eines Kults können sich entwickeln: Man hat ein Originalexemplar des Stückes in der Hand, das seinerzeit eine ganze Generation bewegt, ergriffen, begeistert und vielleicht erschüttert hat und daher von kulturgeschichtlicher Bedeutung ist. Dieses Exemplar umgibt gleichsam eine geheimnisvolle Aura; nichts Esoterisches, aber dennoch spürbar: eine faszinierende Ausstrahlung. Und das womöglich deshalb, weil das seltene Exemplar ein physisch noch fassbarer Teil jener geschichtlichen Welt ist, aus der diese Musik einst hervorgegangen ist und weil es zudem noch viele Momente dieser gewesenen Welt versammelt, die zur reinen Musik noch dazukommen: Layout, Artwork, Linernotes, das Originalmaterial von 1927 oder 1965 etc., was das gesamte geschichtliche Drumherum aufscheinen lässt: die Welt von damals ist plötzlich irgendwie da. Indem wir uns mit all dem gedanklich auseinandersetzen, können wir natürlich auch mehr von der Musik selbst verstehen, ein tieferes Verständnis erlangen, als es ein nur flüchtiges, oberflächliches Hören einer MP3 ermöglicht. Was dann letztlich dazu führt, auch den „Wert der Musik an sich“ durch tiefere Auseinandersetzung intensiver und authentischer erschließen zu können. Insofern kann ich Otis und Andere hier durchaus verstehen, bin selbst aber kein derartig passionierter Plattensammler, komme weder zeitlich dazu, noch wäre es mir finanziell in diesem Ausmaß möglich.

Andererseits scheint mir ein solches Sammlertum auch keine zwingende Voraussetzung für ein tieferes Verstehen zu sein, sondern stellt nur einen möglichen, sehr anspruchsvollen und auch steinigen Weg dar, sich mit Musik tiefer auseinanderzusetzen. Es gibt ja auch ausgezeichnete CD-Ausgaben, die intensivere „Forschungsarbeiten“ ermöglichen; man denke beispielsweise an die aus zwanzig CDs bestehende Compilation zur Geschichte der Country-Music, die hier von der Teilnehmerin Anne Pohl empfohlen wurde und die ich auch habe und schätze, oder an vollständige Gesamtausgaben einzelner Interpreten. Kürzlich habe ich, um beim Beispiel zu bleiben, von einer chronologisch sortierten CD-Gesamtausgabe aller Tracks von Jimmy Rodgers mit ausführlichem Kommentarmaterial gelesen; wer also z. B. die Entwicklung des Old Timey tiefgründiger studieren und sich knisterfrei daran erfreuen möchte, kann das auch sehr gut mit solchen hervorragenden Sammlungen tun. Am PC kann man dann die alten digitalisierten Schellacks noch mit etwas Hall und anderen Extras aufwerten und sie dadurch lebendiger werden lassen. – Eine prinzipielle Ablehnung von CDs & Co. halte ich gerade angesichts solcher Sammlungen für unangemessen. Und das, obwohl auch ich zuweilen das „dritte Ohr“ habe und den Unterschied zwischen Vinyl und CD höre. Ich höre nach wie vor noch gern Vinyl, fahre Vinylplatten von zwei Dual-Plattenspielern mit neuen TA-Systemen auf einer mittelprächtigen Anlage, die hoffentlich bald einer neuen weichen wird. Der Unterschied zur CD wird bei vielen Aufnahmen deutlich. Ich denke jedoch, dass dieser lediglich für bestimmte Musikrichtungen relevant ist, bei Klassik und Electronica z. B. keine allzu große Rolle mehr spielt. Audiophile Analog-Gurus wie Simon Yorke würden mich jetzt für diese Äußerung schlagen, aber gerade ein Mann wie Simon Yorke weiß ja auch, dass er nur für eine verschwindend kleine, elitäre Minderheit produziert, zu der ich bestimmt nicht gehöre noch je gehören werde (vgl. http://www.recordplayer.com ).

Was Mikkos Ausgangsfrage nach den Auswirkungen der neuen Technologien auf Musikproduktion und Hörverhalten angeht, wird sich künftig ganz sicher vieles verändern. Aber wie zu den Zeiten, als es nur Schellack, Wachs, Vinyl oder Magnettonbänder gab – man könnte das vielleicht analog zum Begriff der „Gutenberg-Galaxis“ die „Edison-Galaxis“ nennen – wird es auch in Zukunft innerhalb der digitalen „Turing-Galaxis“ immer solche und solche Hörer geben: diejenigen, die mit Musik oberflächlich umgehen und die Anderen, die sich ernsthafter damit befassen, und das sowohl auf Produzenten- als auch auf Rezipientenseite. Wahrscheinlich muss man dem „guten Geschmack“ künftig noch ein wenig nachhelfen, sich mehr um „Steuerungsinstanzen“ kümmern, da die Gefahr von Beliebigkeit und Einebnung von Niveauunterschieden durch das vorhandene Überangebot und die totale Verfügbarkeit von allem und jedem durchaus besteht. Vielleicht könnten sich im Internet bestimmte „Machtzentren“ zusammenballen, die mit Autorität ausgestattet sind und den anspruchsvolleren Leuten die Richtung weisen, so wie früher jene Radiostationen, die ein besseres Programm boten als der Dudelfunk und denen man sich zuwenden konnte, wenn es einem da zu öde wurde. Man denke an die Zeit Ende der achtziger Jahre, als in Berlin der RIAS vernichtet wurde durch einige Blöd- und Dorfmänner und deren gewaltsame Einführung eines 24-Stunden-Dudelprogramms. Da gab es immerhin noch den SFB und den BFBS, an die man sich fortan halten konnte. Solche Zufluchtsorte könnte es in Zukunft ebenso geben.

Schnell noch was zur Musikindustrie und dazu, wie John Peel die Dinge sah. Ich zitiere hierzu mal aus einem „Zeit“-Artikel über John Peel, der noch zu seinen Lebzeiten entstanden ist (August 2004, http://zeus.zeit.de/text/2004/36/John_Peel ):

»Ich bekomme heute mehr Musik zugeschickt als je zuvor«, sagt er [Peel], »sehr viel mehr, als ich je in meinen Sendungen spielen kann. Es gibt eine unfassbare Kreativität, jeden Tag stoße ich auf neue Leute, die in ihrer Musik absolut erstaunliche Dinge tun.«

Von der Weltuntergangsstimmung der Musikindustrie trennt ihn die sichere Entfernung zwischen Stowmarket und London. »Es gibt jetzt einen direkteren Kontakt zu den Musikern«, sagt Peel, »ohne den Umweg über irgendwelche PR-Abteilungen. Wenn nun die Musikindustrie, wie wir sie kennen, kollabiert, dann tut es mir natürlich leid für die Leute, die dabei ihren Job verlieren. Aber sonst stört es mich eigentlich nicht. Es werden weiterhin sehr viele sehr gute Platten gemacht werden.«

Arme Musikindustrie. Aber nachdem vielleicht schon genügend Karriere-Bands in der Absicht gegründet worden sind, die neuen Beatles, Stones oder Take That zu werden, gibt es tatsächlich jede Menge Musiker, die in ihren eigenen, besser noch: sehr eigenen Klängen einen Selbstzweck sehen. In John Peels Programmen lässt sich von Woche zu Woche verfolgen, wie sich deren entfesseltes Treiben in immer neue Zweige ausdifferenziert. Ein Albtraum für langfristig planende Plattenkonzerne, ein Genuss für Freunde des Neuen: »Etwa 85 Prozent der Stücke in meinen Sendungen wurden vorher nie im Radio gespielt, zumindest nicht von mir. Die BBC hat es mir ermöglicht, als eine Art Patron der Künste zu wirken, wie es sie im 17. oder 18. Jahrhundert gab. Mit dem großen Unterschied, dass ich nicht so viel eigenes Geld dafür ausgeben muss wie die.«

[…]

Tatsächlich finden sich Parallelen zum Wahlverfahren dieses DJs noch am ehesten auf dem Kunstmarkt. Die dort organisierte Suche nach dem jeweils Neuen, dem »Authentischen«, gern auch Irritierenden ist für eine bestimmte Sorte Mensch von existenzieller Bedeutung und wird vom Rest unserer Gesellschaft zwar nicht immer verstanden, aber mindestens achselzuckend toleriert – Kunst halt –, wenn nicht gar ehrfürchtig subventioniert. Auf weniger Verständnis hoffen darf die sehr ähnlich gelagerte Beschäftigung – dieselben Kriterien, dieselbe existenzielle Bedeutung – mit einer Musik, die weder Klassik noch Jazz ist und deswegen immer noch unter dem irreführenden Begriff »Pop« firmiert, dessen äußerstes Gegenteil sie doch in vieler Hinsicht ist. »Ich werde jetzt immerhin 65. Manche Leute wundern sich, dass ich mich in diesem Alter noch so für diese Musik interessiere. Aber die haben sich auch schon vor 20 Jahren darüber gewundert. Seltsam, in der Literatur oder im Theater sagt nie jemand: Sorry, du bist jetzt über 40, du darfst leider nur noch die Bücher lesen und die Stücke sehen, die du schon kennst.«

Wenn es nach John Peel ginge, könnten mit dem Niedergang der globalisierten Musikindustrie gleich zwei komplementäre Übel dahinschwinden: mit der industriell gefertigten Musik die dazugehörigen Stars. »Ich finde diese Prominenzbesessenheit in unserer Kultur sehr beunruhigend. Man sieht überall, wie das Berühmtsein die Leute beschädigt. Meine Frau Sheila und ich haben eine ganze Menge Freunde an das Showbiz verloren. Nicht wegen der Drogen oder so, sondern weil sie, aus meiner Sicht, einfach verrückt geworden sind.

Zum iPod hatte Peel jedoch ein eher kritisches Verhältnis :

Die weltweite Suche nach dem Neuen betreibt Peel ohne eigenen Internet-Zugang. »Da ich ein ziemlich obsessiver Typ bin, ist es wohl besser, wenn ich dem Internet fern bleibe. Am meisten Angst hätte ich davor, mich bei eBay auf das Ersteigern von Platten einzulassen. Da würde ich sehr schnell Bankrott gehen.« In digitalen Abspielgeräten wie dem iPod sieht er keineswegs die Werkzeuge kreativer Emanzipation, als die sie derzeit gefeiert werden: »Ich finde, der iPod wirkt sich zu sehr gegen neue Musik aus. Die Leute laden ihre Favoriten drauf und hören nur noch die.«

Nach Peel wirkt sich der iPod also vor allem gegen neue Musik aus, verhindert innovative Strömungen und Untergrundbewegungen, begünstigt eine Art angepasstes, rein restauratives Hören von Schondagewesenem. Ich denke, die angesprochene Gefahr besteht durchaus. In unserer schönen neuen digitalen Welt brauchen wir daher vor allem eins: Mehr Menschen wie John Peel oder zumindest solche, die ihn sich zum Vorbild nehmen, welche Musik auf andere Weise auswählen, präsentieren und promoten, als das viele dieser roboterhaften und austauschbaren „Moderatoren“ im heutigen Radio machen oder wie das hier im Internet geschieht. Also Persönlichkeiten, die gegen die Einebnung von Niveauunterschieden und den damit einhergehenden Qualitätsverlust wirkliche Unterschiede setzen und vertreten können. Ich bin in Berlin aufgewachsen mit hervorragenden Radiomoderatoren, Leuten wie Doebeling, Lehnert, Graves, Kraesze, Christine Heise, Alan Bangs und natürlich John Peel und musste, als ich nach Süddeutschland zog und diesen SWR-Dudelfunk hörte, frustriert einsehen, wie verwöhnt wir doch eigentlich damals in Berlin waren. Weil das Radio ja nun auch beinahe am Verschwinden ist und möglicherweise mehr und mehr durch Internetstreams u. dgl. ersetzt werden wird, sollten sich künftig bestimmte Interessenpools bilden, die auch innerhalb der digitalen „Turing-Galaxis“ dafür sorgen, dass eine extrem gesteigerte Reproduzierbarkeit von Musik und Medien nicht gleichbedeutend sein muss mit gedankenloser und stumpfer Gleichmacherei.

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