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In der Berliner Zeitung von heute (2.2.06) schreibt Jens Balzer:
Tanztee in Schrathausen
„The Brave and the Bold“: Überraschende Cover-Versionen von Tortoise und Bonnie „Prince“ BillyJens Balzer
Die erstaunlichste Überraschung dieses langen Rock’n’Roll-Winters kann man auf einer klitzekleinen unscheinbaren Schallplatte mit randständigen Cover-Versionen erleben, auf deren Vorderseite zwei blaue Rehkitze äsen.Der schlurfigste Schlurfer des älteren Schlurf-Song-Gewerbes und die meist überschätzte Rockband des letzten Jahrzehnts haben ein possierliches, originelles, an nicht wenigen Stellen sogar rundweg zu Herzen gehendes Album aufgenommen: hier Tortoise, die Erfinder des Postrocks und Wiedereinführer des Wollmützentragens in die elektrisch verstärkte Musik; dort Will Oldham alias Bonnie „Prince“ Billy, der Erfinder des Zeitlupen-Depressions-Countryrocks und Wiedereinführer des barttragenden Schrattums in das am erikanische Songwriterwesen.
Tortoise waren ohne Zweifel eine der wichtigsten Rock’n’Roll-Gruppen der Neunzigerjahre; passend zum Jahrzehnt, kann man sie als Band der Reinigung und Entmannung ansehen. Von Chicago aus wollte das ursprünglich siebenköpfige Ensemble die Rockmusik von allen rockmusiktypischen Dominanz- und Männlichkeitsgesten befreien: vom schnellen Zum-Höhepunkt-kommen des Drei-Minuten-Songs und vom phallischen Gitarrengepose, das im gerade zum Mainstream geronnenen Grunge wieder fröhliche Renaissance feierte. Alles sollte weicher, komplizierter, gedankenvoller, jazzartiger werden, ohne doch zugleich den Referenzrahmen des Rock’n’Roll zu verlassen. In ihrer Verpflichtung aufs Negative war diese scheinbar so grenzensprengende Musik dann aber doch ziemlich umschränkt, und während die Tortoise-umgebende Chicagoer Jazzszene sich in höchste Hype-Höhen aufschwang, schreckte die Band vor dem Schritt in wahrhaft offene Formen zurück – und pegelte sich stattdessen auf einem mittleren Klang- und Leidenschafts-Level mittelinteressanten Indie-Gedaddels ein.
Insofern musste man ihre Zusammenarbeit mit Will Oldham eher mit Sorge erwarten; auch dieser ist nicht gerade als mitreißender Interpret bekannt. Wenn er eine Schallplatte besingt oder sich auf eine Konzertbühne stellt, wirkt er eher wie ein musikalisches Gravitationsloch; einer, der in seiner abgrundtiefen Erbarmungswürdigkeit nicht einmal mehr den Impuls erweckt, dass man ihn in den Arm nehmen und trösten möchte, weil ihn jede Nähe noch weiter zerbrechen könnte. Oldham ist der Urvater aller barttragenden Schrate, die – von Devendra Banhart bis Dead Western – gegenwärtig die Konzertbühnen bevölkern. Da seine Songtexte sich vornehmlich mit Schraten befassen, kann man ihn auch einen Metaschrat nennen – ein Metaschrat freilich mit klar umgrenzter Stimmkraft. Seinen mittleren, bestenfalls aus Betrübnis vibrierenden Kopfstimmenpegel kann man beglückend erbarmungsvoll finden, aber auch rasend langweilig.
Umso erstaunlicher ist die Kraft der zehn Cover-Versionen, die Oldham jetzt mit Tortoise aufgenommen hat: von so unterschiedlichen Künstlern wie dem brasilianischen Sänger Milton Nascimento und dem britischen Folkbarden Richard Thompson, von dem Flower-Power-Mädchen Melanie und dem zornigen Hardcore-Punk-Männerkollektiv Minutemen, von der glamourösen Kunstfigur Elton John und dem Dicke-Eier-Rumrocker Bruce Springsteen. Ein thematischer Faden ist in dem Programm nicht zu erkennen, bei der Aneignung der Tradition haben die Musiker sich vor allem für die Formen der Aneignung interessiert. Durch Gegenläufigkeiten aller Art, etwa die Vertauschung von elektrischen und elektronischen Geräten, haben sie das Material enthistorisiert und seiner popspezifischen Größe beraubt. Noch die dicksten Instrumentierungen werden skelettiert und zerrieben; über dem, was übrig bleibt, schwebt Oldhams dünne, untypisch kratzige Stimme wie ein vergrippter Geist über dem Wasser – und klingt dabei so interessant und so unschratig unmanieriert wie selten zuvor in seinem Schaffen.
Man könnte auch sagen: „The Brave and the Bold“ hat das Erbe des Postrock in eine Art musikalischen Strukturalismus überführt; eine Umwertungsmaschine, die ihre Spannung und ihre Vielfältigkeit aus einem entschlossenen Alles-gleich-machen-schlägt. Man höre Springsteens „Thunder Road“, worin die Leadgitarre durch ein Theremin ersetzt wurde: Es ist nur eine wimmernde elektromagnetische Störung, die Oldhams Gesang hält und trägt; aber dies tut sie so überzeugend zart und in aller Zurückhaltung dramaturgisch so konsequent, dass darüber ein ganzes Orchester überflüssig wird und man die fehlende Fülle vielmehr in den Gesang imaginiert. In „It’s Expected I’m Gone“ von den Minutemen ist die komplizierte Break-Struktur des Originals von den Gitarren ganz ins Schlagzeug verlegt; über einem gleichmütig knurrenden Störton drischt Tortoise-Drummer John McEntire so dicht auf seinen Trommeln herum, dass die Musik gleichzeitig zu fließen und stehen scheint – während Oldham heisere Kerben in die Klangfläche heult, sich immer wieder mit der Musik verbindet und, wie von einem Stromschlag zurückgetrieben, immer wieder von ihr trennt.
„The Brave and the Bold“ bietet eine Ideenmusik ohne den kleingärtnerischen Abstraktionskitsch des Postrocks; einen Postrock, der sich – bei aller Skepsis gegenüber den Direktheiten des Rocks – nicht mehr bloß mit Negationen befasst, sondern mit der Entfaltung von Möglichkeiten. Aneinander haben die Schwachen kräftige Funken geschlagen. Auch wenn sie immer noch darauf achten, dass kein Feuer ausbricht.
Tortoise and Bonnie „Prince“ Billy: The Brave and the Bold (Domino/Rough Trade Distribution)
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