Re: moers-festival 2006

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dagobert

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wow! moers heisst jetzt mœrs – ansonsten ändert sich nichts. (na gut, bis auf das plakat vielleicht… )

ein interview mit dem neuen künstlerischen leiter reiner michalke:

www.moers.de
Zum Beginn seiner neuen Tätigkeit als künstlerischer Leiter des mœrs festival beantworte Reiner Michalke der Webredaktion einige Fragen:

Wie gefällt Ihnen Moers?

Immer besser. Ich dachte, ich kenne Moers schon lange, muss aber feststellen, nachdem ich jetzt ein paarmal auch außerhalb des Schlossparks unterwegs war, dass es hier überraschend schöne Plätze und Ecken gibt, die ich noch nicht kannte. Ich war auch ganz überrascht zu erfahren, dass das Schlosstheater das kleinste Stadt-Theater der Bundesrepublik ist und seit 30 Jahren den Auftrag hat, avanciertes und ambitioniertes Theater zu machen. Das imponiert mir. In Kombination mit dem mœrs festival und dem Comedy Arts Festival verfügen die Moerser Bürger damit über ein außergewöhnlich stark profiliertes Kultur-Angebot. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass die, die mit so einem kulturellen Angebot groß werden, ein überdurchschnittliches Interesse an hochwertiger Kunst und Kultur entwickeln.

Wie war Ihr Verhältnis zum mœrs festival in den vergangenen Jahren?

Ich war zum ersten mal in Moers beim Festival, als es vom Schlosshof in den Park gewandert ist. Meine Frau, die ich viel später kennengelernt habe, erzählte mir immer von den ersten Festivals im Schlosshof – und ihrer ersten Begegnung mit Anthony Braxton. Ich erinnere mich an sensationelle Konzerte mit dem Trio von Yosuke Yamashita, dem Art Ensemble of Chicago, Sun Ra, später u.a. an den ersten Auftritt des Berliner Improvisationstrios aus der Hauptstadt der DDR – drei Musiker mit der kürzesten Anreise wurden zu den bestaunten Exoten des Festivals. Leistungen, für die Burkhard Hennen auf eine gewisse Art zu meinem Vorbild und als Programmmacher unsterblich geworden ist. In den letzten Jahren war ich dann nur noch sporadisch da.

Welchen internationalen Stellenwert hat das mœrs festival heute?

Das mœrs festival führt als Marke immer noch der Hitliste der Jazz-Festivals an, die Neuigkeiten präsentieren, national wie international. Darüber hinaus hat es die Marke Moers geschafft, auch weit über den Jazz-Kontext, ja sogar weit über den Kunst-Kontext hinaus Bekanntheit und vor allen Dingen auch Ansehen zu erringen. Auf Grund der Tatsache, dass es bisher kein Festival gewagt hat, programmatisch mit Moers in den Wettbewerb zu gehen, besteht dieses Alleinstellungsmerkmal (ich bitte dieses Wort zu entschuldigen!) weiterhin. Man muss allerdings auch selbstkritisch anmerken, dass das Festival sowohl in Fachkreisen als auch in den überregionalen Feuilletons zunehmend an Anziehungskraft verloren hat. Ein ganz herber Rückschlag war dabei auch sicherlich der Rückzug des WDR.

Was sind ihre Schwerpunkte bei der Programmplanung?

Ganz grundsätzlich möchte ich das Festival so weitermachen, wie es Burkhard Hennen positioniert hat und wie ich es auch weiterhin für richtig positioniert halte, nämlich an der Schnittstelle zum musikalischen Neuland, zum nicht Abgesicherten, zum Experiment. Das heißt aber nicht, dass ich den Schatz der Geschichte dieser Musik völlig ignorieren würde. Es gibt auch viele bekannte Musiker, die nichts von ihrer Kraft und Faszination eingebüsst haben. Ich werde jetzt bei der Programmrecherche einige Metropolen besonders gründlich absuchen und weiterhin den Hinweisen nachgehen, die ich von Musikern aus der ganzen Welt erhalte. Musiker sind immer die ersten, die spüren, wenn sich irgendwo etwas besonderes tut oder jemand etwas besonderes macht. Auch habe ich mir vorgenommen, hin und wieder einen leisen Beitrag zu riskieren. Mal gespannt, ob das auch im Zirkuszelt funktioniert.

Was sagen Sie dem „gemeinen“ Moerser, der beim Klang der Musik aus dem Festivalzelt zu fragen pflegt: „Stimmen sie noch oder spielen sie schon?“

Sie werden lachen, aber genau diese Frage habe ich kürzlich aus dem für Kultur zuständigen Bundesministerium gehört – da ging es um Peter Brötzmann. Auch dort sind nicht alle auf der Höhe der Zeit. Die gleichen Leute glauben ja auch, dass ihre Kinder bessere Bilder malen können als Pablo Picasso oder Paul Klee. Aber was Moers betrifft, gehört dies zu den hartnäckigen Gerüchten, die sich aus den Anfangsjahren bis heute gehalten haben. Ich glaube vielmehr, dass gerade die jüngeren Moerser Bürger, auch wenn sie nicht alle zu Festival-Besuchern geworden sind, ein besonders aufgeschlossenes Verhältnis zu avancierter Kunst haben.

Beabsichtigen Sie, abseits der vier Pfingsttage eine Wirkung in die Stadt zu entfalten?

Ja, unbedingt. Natürlich nicht missionarisch, aber mit Angeboten. Moers ist ja bereits so eine Art Musterfall für den zeitgenössischen Jazz. Und ich glaube zu spüren, dass es eine sehr große Offenheit gegenüber dieser Kunstform hier gibt. Ich will jetzt auch nicht zu viel versprechen, aber wenn das Interesse da ist, kann man das Thema „Musik“ vom Kindergartenalter an entwickeln. Und so wie ich höre, ist das auch schon eine ganze Menge Gutes in dieser Richtung passiert. Eigentlich ist es dann nur noch eine Frage der Zeit, bis auf der Festivalbühne Musikerinnen und Musiker aus Moers auf Augenhöhe gemeinsam mit der internationalen Spitze stehen werden.

Wie beurteilen sie das Verhältnis von Zeltstadt und Festival?

Als ich das erste Mal nach Moers kam, waren Festival und Campground eine Einheit. Das heisst: Alle, die dort gecampt haben, wollten auch das Festival besuchen. Das hat sich offensichtlich im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte immer weiter auseinandergelebt. Während die Stammgäste des Festivals mit dem Festival älter geworden sind, sind die Gäste der Zeltstadt gleich jung geblieben. irgendwie liegt das auch in der Natur der Sache. Ich habe den Ehrgeiz gemeinsam mit der Festival-GmbH, Festival und Campground durch verschiedene Angebote wieder etwas näher zusammenzubringen. Wir möchten auch die Qualität der Stände erhöhen und deren Anzahl reduzieren. Dies alles aber Schritt für Schritt und im Dialog mit allen Interessierten – schließlich habe ich ja fünf Jahre Zeit.

Was wünschen sie sich für die Zukunft des mœrs festivals?

Natürlich wünsche ich mir zu allererst, dass die Entwicklung der aktuellen improvisierten Musik wieder an Fahrt aufnimmt und auch wieder in anderen Kulturszenen von sich Reden macht. Einige Anzeichen sprechen auch dafür. Schließlich kann ich, wie jeder andere Festivalmacher auch, nur das präsentieren, was Musikerinnen und Musiker weltweit an Schaffenskraft anbieten. Und selten tut uns die Evolution den Gefallen, genau in dem für uns maßgebenden jährlichen Festivalabstand neue Talente hervorzubringen. Ein zweiter großer Wunsch ist, dass es mir gelingt, das Publikum der Zeltstadt mit dem Programm des Festivals in Berührung zu bringen und dem mœrs festival als Gesamtereignis – so wie es am Anfang war – einen Schritt näher zu kommen. Ich glaube nämlich fest daran, dass die Leute, die gute Musik – und Kunst überhaupt – zu schätzen wissen, auch über eine hohe soziale Kompetenz verfügen. Und davon kann die Zeltstadt, die ich in diesem Jahr erlebt habe, durchaus noch etwas vertragen.

Könnten Sie sich vorstellen nach Moers zu ziehen?

Obwohl Moers nur 70 Kilometer von Köln entfernt ist, eine Strecke, für die ich meist weniger Zeit brauche, als um in der Rushhour vom Kölner Norden in den Kölner Süden zu kommen, und meine beiden Kinder in Köln-Ehrenfeld zur Schule gehen, meine Frau einen interessanten Job in Köln hat, der Stadtgarten und das Loft in Köln sind, sollte man niemals „nie“ sagen.

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