Re: Kurzgeschichte des Tages

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matis

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István Kalász
Der Himmel dazwischen

P., mein bester Freund und ich, wir haben uns vorgenommen, dass wir ein ganzes Jahr lang nicht weinen würden, und so wurde es. Zwölf Monate später dachten wir, das Jahr sei vorbei, und in dieser Zeit wären wir stärker, klüger geworden, und niemand könnte uns erniedrigen. Wir haben nicht geweint. Nicht in der Schule, nicht zu Hause, wo unsere Väter mit dem Gürtel auf uns einschlugen, nicht hinter dem Wohnblock, nicht auf der Wiese, in der Nähe der Baustelle. Wo die schwächeren Kinder Regenwürmer essen mussten, wo wir den Ball abgeben mussten an die Stärkeren, wo wir die Flügel der Fliegen ausrissen, wo große LKWs standen, staubige Trucks aus Bulgarien, Ungarn … und um die Kräne herum die Mädchen, die Nutten. Wo nachts geschrien wurde und die Polizei oft kam.
Ja, das haben wir geschafft, sagte P. stolz, und hat die erste Zigarette seines Lebens angesteckt.
Ja, sagte ich auch, keiner kriegt uns, nicht wahr?
Dann machen wir weiter, sagte P., wir werden in unserem ganzen Leben nicht weinen, in Ordnung?
So haben wir entschieden in jenem dunkeln, feuchten Keller unter dem Haus, dass wir von nun an nie weinen würden, und wer doch schwach werden sollte, muss es zugeben, dem anderen Bescheid sagen, weil er so den Kampf verloren hatte. Und so gehöre seine Seele dem Anderen, sagte ich ernst, weil ich es so sah nachts in den Horrorvideos, bevor der Mörder die Kettensäge hob.
Und es gelang uns.
Wir wurden erwachsen, hatten Jobs, Ehefrau, Chefs, die Freundin kam, die Scheidung kam danach, Krankheiten überfielen uns. Das Leben ist ein Haufen Müll, auch dieses Gefühl kannten wir. Und es gab Liebe, nachts einsames Trinken vor dem Fernseher, es gab, dass der Fernseher zertrümmert wurde, es war so, dass wir fühlten, das ganze Leben gehört zertrümmert. Ich stand auf Berggipfeln, still am Ozean, und ich verstand mit der Zeit, dass ich mit Frauen höflich sprechen sollte, dann sind sie auch nett zu mir, und ich habe begriffen, dass man die Möbel zudecken sollte, wenn man verreist. Genauso wie meine Großeltern, Eltern es taten. Und ich wurde irgendwann betrogen, bestohlen, und ich habe auch betrogen, gestohlen.
Dazwischen wurden unsere Eltern alt, die Väter starben, und wir dachten, wir hätten das Weinen überwunden, ja, dann ist es doch passiert. Weil bis dahin ich wirklich nicht geweint habe. Ich wusste: P. weinte auch nicht. Er hätte es mir gesagt. Ja, es gab einige Augenblicke, aber dann doch nicht. Nein und nicht. So verging die Zeit, rannten die Jahre dahin, was weiß ich wie man das schöner, klüger sagt mit der Zeit, ja, ich wurde älter, meine Haare schütterer, es passierte dieses, jenes, aber weinen?
Wir haben nicht geweint.
Und dann: wir weinten doch. Am selben Tag. Es gibt keine Zufälle? Ja, das Schicksal ist ja doch letztendlich willkürlich, Asche und Wind in einem, Chaos; wenn ich es mir überlege, nennen wir immer die Schläge im Leben Schicksal, und am selben Tag haben wir geweint. P. und ich. An jenem Tag war ich gerade zur Hälfte meines Wunschalters gekommen, die Hälfte meines Lebens hatte ich um, nur meine Mutter lebte noch. Es war Sommer, Hitze, die Stadt ist fast geschmolzen, die Straße stank, der Himmel schmutzigweiß, ja, an diesem Tag saß ich im Auto. Ich fuhr dem Geld hinterher, jagte gerade raus in ein Industriegebiet, als mein Handy klingelte. Die Nachbarin meiner Mutter, ein altes Ekelweib rief an, ich solle zur meiner Mutter kommen, es ist was passiert.
Die Zeit ist wie das Kind, sie läuft immer weg, sagte meine Mutter immer, wenn ich wieder keine Zeit für sie hatte, wenn ich mich wieder am Telefon rausredete, ich könne nicht kommen, ja, antwortete ich dann immer, die Zeit ist das Kind der Moral, ich weiß, und dann lachten wir immer laut. Zusammen. Es ist eine ernste Sache, sagte die Nachbarin, Sie müssen wirklich kommen. Jetzt.
Und ich fuhr los. Bog ab, raste über Sperrlinien, über rote Ampeln hupend, raste über den Fluss, und mir fiel ein, wie oft ich nach einer hübschen Frau so raste, aber so schnell fuhr ich zur meiner Mutter nie. Zu meiner Mutter, die vergesslich geworden ist. Sie schließt die Wohnungstür nicht ab, der Hahn tropft in der Küche seit Wochen, in der Wanduhr ist die Batterie lange aus, die Lichter brennen Tag und Nacht in der Wohnung, das Radio summt vor sich hin im Schlafzimmer, ja, so ist meine Mutter. Dann kam ich an bei ihr, rannte die Treppe rauf, öffnete die Tür, die Wohnung war stickig, schwül, ja, im großen Zimmer saß sie da. Meine Mutter.
Und ich sah sofort, sie ist verwirrt. Woher? Wieso wusste ich es sofort? Ich wusste es nicht. Ich fühlte es.
Sie saß am Tisch, und sprach mich mit dem Namen meines Vaters an. – Peter, ich weiß, du magst keine Kinder. Ja, du kannst mit Kindern nicht umgehen, ja, ich weiß es.
– Peter, wir müssen reden.
– So kann es nicht weitergehen.
Ich kniete vor ihr, und sagte, ich sei es, ich wäre hier, ihr Sohn, den sie schon so lange nicht mehr gesehen hätte, und der sich jetzt entschuldigen möchte. Und der Sohn würde jetzt Kuchen für sie bringen. Mutter, den mit Mohnkuchen, den magst du doch so gern, oder?
Sie lächelte, und sagte leise, nein, den mit Maronen, den habe sie gern.
– Peter, wir müssen reden, fuhr sie fort.
– Ich würde für dich sorgen, du würdest alles haben. Aber es gibt hier etwas, Peter…
So sprach sie leise, und ich habe verstanden, sie ist in der Vergangenheit versunken. Endgültig.
– Es freut mich, sagte ich endlich, dass du verstehst, dass ich Kinder nicht mag, und ich muss dir sagen, auf dieser Erde kann keine Frau so gute Suppe kochen, wie du.
Meine Mutter lächelte, sie streichelte mein Gesicht.
– Ja, Peter, aber jetzt muss ich mit dir über etwas reden. Es ist wichtig.
– Ich möchte wissen, heiratest du mich?
– Weil ich es wissen möchte, woran ich bin. Mit dir, mein Lieber. Die Frauen sind so, sie können nicht warten, das hast du neulich so gesagt. Ich liebe dich.
Ich küsste ihren kalte, faltige Stirn, und ging dann ins Schlafzimmer meiner Eltern, und setzte mich auf ihr Bett. So saß ich da, schaute die vergilbte Tapete an der Wand an, während meine Mutter draußen im Wohnzimmer leise weiter redete.
– Peter, bist du da? Werden wir heiraten?
– Peter, ich will nicht vor dir weinen.
Es gab einen Schuhkarton im Schrank, hinter den alten Anzügen meines Vaters. Mit Bildern, Videobändern. Von ihrer Hochzeit.
Wie sie so dastehen vor der Mauer. Auf einem anderen Foto stehen sie mit dem Pfarrer auf einem Platz. Zwischen den Verwandten. Hinter ihnen alte Autos, Typen die es heute nicht mehr gibt. Rostige Fiats, Wolgas. Und über den Geschäften sind seltsam verschnörkelte Neonreklamen zu sehen. Mein Vater steht da in einem Anzug, meine Mutter mit einem ärmlichen Blumenstrauß in der Hand.
So saß ich da. Im Schlafzimmer. Das alte Radio summte, dieses passierte in der Welt, jenes passierte, ich saß nur da, schaute den Schrank an, in dem die Fotos lagen, und dachte, ich müsste die Bilder rausholen, ich müsste sie mir anschauen, damit ich genau wüsste, wie es an jenem Tag war … Was für eine Krawatte trug mein Vater damals? Was für ein Kleid hatte meine Mutter an zum Heiraten? Wie war das Wetter? Schien die Sonne damals? War es windig? Überhaupt, was passierte in der Welt an jenem Tag? Meine Eltern haben mir nie über diesen Tag erzählt. Ja, Heiraten ist eine gute Sache, nicht heiraten ist aber eine bessere, steht in der Bibel irgendwo, aber das dürfte ich nie vor meiner Mutter sagen.
Ich holte tief Luft, draußen murmelte meine Mutter immer noch, dann stand ich auf, damit ich mich wieder vor sie hinstellen kann, und sagen könnte: Alles wird gut, Mutter.
– Ich erwarte ein Kind, Peter.
– Wenn du mich nicht heiratest werden sie dieses Kind aus mir herausholen, Peter.
– Ich will nicht weinen.
– Ja, Mutter, sagte ich.
– Ich will nicht, dass sie dieses Kind aus mir rausholen. Ich weiß, du magst keine Kinder.
– Aber jetzt, Peter, musst du dich entscheiden. Ich habe genug gewartet.
– Ich verspreche dir, es wird kein anderes Kind mehr geben.
Ja, in diesem Augenblick fing ich an zu weinen. Weil ich plötzlich die Filzpantoffeln meiner Mutter sah. Sie trug die verkehrt, die Nachbarin hatte ihr die wohl so angesteckt, keine Ahnung wie es passieren konnte. Denn ich habe nie gesehen, dass meine Mutter irgendwas verkehrt getragen hätte, sie war ihr ganzes Leben lang sehr achtsam und penibel mit ihrer Kleidung.
Ja, sagte ich, hab keine Angst.
Dann ging ich raus, raus aus der Wohnung, aus dem Haus raus, unter den Himmel und rief P. an, und erzählte, wie meine Mutter um Leben bettelte damals, und erzählte auch, dass ich weinte, weil ich ihre Pantoffeln sah.
P. schwieg, dann hörte ich wie er auch leise zu weinen anfing, und dann legten wir beide auf. Ich blieb da, unter dem riesigem Himmel, sah rauf, sah das Fenster meiner Mutter und wusste, ich muss rauf. Denn ich werde viel zu tun haben, und in diesem Augenblick kam eine solche friedliche Ruhe über mich, wie ich sie so noch nie in meinem Leben gespürt hatte.

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five to seven