Re: Kurzgeschichte des Tages

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matis

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Shurak
[B]Heimweg

Im Schein der rotglühenden Abendsonne ritten sie auf ihren prächtigen Pferden in das Dorf ein, vier Gestalten, die direkt aus einem Märchen zu kommen schienen. Vorneweg ein Stern, gleißend hell, blendend im roten Gegenlicht. Erst auf den zweiten Blick war die aufrechte, edle Gestalt zu erkennen, gehüllt in blanken Stahl, das blonde Haar leicht im Abendwind wehend, mit lässiger Hand das weiße Pferd dirigierend, um dessen kraftvolle Gestalt eine weiße Schabracke wie ein mächtiges Banner wehte. Hinter ihm eine Königin. Langes dunkles Haar, kaum gehalten von einem silbernen Reif, fiel in dicken, sanften Wellen auf die geraden Schultern und warf einen geheimnisvollen Schatten auf das feingeschnittene Gesicht, aus dem zwei dunkle Augen wie schwarze Edelsteine hervorglühten. Das fremdartige, samtblaue Gewand leuchtete vor der makellosen, bronzenen Haut, umwehte die schlanke Gestalt wie eine Wolke, bauschte sich, Hülle und Verheißung zugleich. Das nachtschwarze Pferd hielt stolz den Kopf aufgerichtet, tadellos sein Gang, scheinbar mühelos zähmte es die unbändige Kraft, die doch aus jedem seiner Schritte sprach. Neben ihr ritt ein Märchen, ein Geist, eine lebendig gewordene Sage. Ein echter Elf! Fast weißes Haar flog in dem leichten Wind um die katzenhaften Züge, aus denen große, smaragdgrüne Augen die Welt mit einem Ausdruck spöttischer Belustigung betrachteten. Das grüne Gewand war wie aus einem einzigen Blatt gewachsen, leicht, fast zärtlich schmiegte es sich um die hochaufragende Gestalt, hier und dort von einem winzigen Edelstein wie von einer kleinen Blüte verziert. Das feurig rote Pferd des Elfen trug weder Zaum noch Zügel, ja nicht einmal einen Sattel und doch saß er darauf wie auf einem Sessel, das eine Bein untergeschlagen, in der Hand eine Flöte, auf der er ab und an ein paar Töne spielte, kleine, scheinbar bedeutungslose Harmonien, die eine unbestimmte Sehnsucht nach einer verheißungsvollen Ferne weckten. Den Schluss machte eine lustige Gestalt, ein bunter Vogel, mit einem großen Federhut, der die wilde, rote Lockenpracht kaum fassen konnte. Schalkhaft blitzende Augen in einem zarten Kornblumenblau umfassten eine niedliche kleine Nase über einem immer lächelnden Kirschmund, aus dem kleine weiße Perlen hervorblitzten. Das in allen Farben leuchtende Gewand flatterte lustig umher, wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel und eine Schar bunter Bälle tanzte zwischen den feingliedrigen Händen einen schnellen Reigen. Atemlose Stille breitete sich rings um die vier Reiter aus, die Menschen erstarrten mitten in der Bewegung, nur hier und da war ein ehrfurchtsvolles Flüstern zu hören. Es war, als kehrte die Zeit der Sagen zurück und die Menschen fühlten für einen kurzen Augenblick, wie die Dunkelheit, die sich über die Welt gebreitet hatte, zurückwich, geradezu floh vor diesen vier Gestalten, deren aufrechter Blick ein Licht in jene düsteren Tage trug.
Mitten auf der Strasse stand ein Kind, ein Mädchen, kaum älter als vier. Mit angstvoll aufgerissenen Augen starrte sie den Reitern entgegen, die genau auf sie zu kamen. Unendlich verloren und klein sah sie aus, in ihrem zerschlissenen Leinenkleid, eine einfache Strohpuppe an sich gepresst, das blonde Haar in wirren Strähnen, die der Abendwind um ihren Kopf wirbelte, unfähig, auch nur einen Muskel zu rühren. Und doch stand noch etwas anderes in ihren Augen als der furchtsame Respekt, den alle den Reitern entgegenbrachten, ein leises, begeistertes Funkeln, wie es in Kinderaugen erscheint, wenn die Großmutter vor dem Kamin Märchen und Geschichten erzählt. Langsam, ohne von ihr Notiz zu nehmen, trottete das schwere Pferd des Ritters an ihr vorbei, als plötzlich zaghaftes Leben in die kleine Gestalt kam. Unsicher machte sie einen kleinen, Schritt nach vorne, die Puppe immer noch an sich gepresst, und zwischen bebenden Lippen zwängte sich ein dünnes Stimmchen hervor. „Bist du… bist du ein.. Prinz?“ Mit einer lässigen Bewegung verhielt der Ritter sein Pferd. Ein wenig irritiert wandte er sich der kleinen Gestalt zu, die da so nahe an seinem Pferd stand, dass sie nur ein wenig die Hand hätte ausstrecken müssen, um seine glänzende Flanke zu berühren, und mit großen blauen Augen zu ihm heraufsah. Noch einmal, jetzt schon wesentlich mutiger, kam die Frage: „Bist du vielleicht ein Prinz?“ Einen kurzen Moment runzelte der Ritter die Stirn. Irgendwo am Straßenrand setzte sich eine bleich gewordene Frau mit für ihre Leibesfülle erstaunlicher Behendigkeit in Bewegung. Dann brach er in schallendes Gelächter aus und auch seine Begleiter konnten sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Elegant verbeugte er sich aus seinem Sattel heraus vor der Kleinen und erklärte dann mit gezwungener Ernsthaftigkeit. „Verzeiht, edles Fräulein, doch ich bin nur ein bescheidener Ritter, ein unwürdiger Diener der Herrin Rondra, der mit seinen treuen Gefährten auf große Fahrt gegangen ist, um gegen die finsteren Mächte dieser Welt zu bestehen. Man nennt mich Rovin von Felsenrain, zu euren Diensten, vieledle Maid. Erlaubt mir die Dreistigkeit, nach eurem Namen zu fragen.“ Eine Weile sah die Kleine den Ritter nur staunend an, doch schließlich fasste sie sich ein Herz und verkündete „Ich bin Anjissa.“ Noch einmal verbeugte sich der Ritter. „Nun denn, edle Anjissa, seid mir gegrüßt. Seid versichert, dass ich auch in eurem Namen für das Recht und die Freiheit streiten werde.“ Einen Augenblick lang bekam sein Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck, dann lächelte er, griff in die Tasche und zog einen funkelnden Dukaten daraus hervor. Mit dem Dolch ritzte er seine Initialen in die Fläche der Münze, dann beugte er sich herab und überreichte sie feierlich dem kleinen Mädchen. „Nehmt dies hier, edle Maid, als bescheidenes Pfand meiner Gunst. Sollte euch einmal die Not treffen, so zögert nicht, und sendet nach mir. Dieses Pfand wird euch meine Türe öffnen, und mein Schwertarm ist der eure. Doch nun, vieledle Maid, muss ich weiterziehen. Gehabt euch wohl, und den Segen der Götter für euch.“ Damit richtete er sich wieder auf und trieb, immer noch nur schwer beherrscht, sein Pferd wieder vorwärts. Auch die anderen trieben ihre Pferde wieder an und zogen einer nach dem anderen an der kleinen vorbei, allerdings nicht, ohne noch einen Blick auf das beherzte Kind zu werfen.
Noch lange, nachdem die vier außer Sicht gekommen waren, stand die Kleine dort, mitten auf der Straße, die Puppe in der einen, die Münze in der anderen Hand. Ein wildes Glühen, wie im Fieber, lag in ihrem Blick und hitzige Röte überzog ihre Wangen. Ein echter Ritter. Und er hatte ihr etwas geschenkt! Sie würde die Münze wie ihren Augapfel hüten. Und eines Tages würde sie den Ritter wiedersehen.

Sie kamen mitten in der Nacht, ohne Vorwarnung, wie der Blitz aus heiterem Himmel. Als die ersten Bewohner des Dorfes vom Donnern der Hufe auf dem gefrorenen Boden, von wildem Lachen, blutrünstigem Brüllen und zuckendem Fackelschein geweckt wurden, war es bereits zu spät. Türen wurden eingeschlagen, Männer, Frauen und Kinder schrieen durcheinander oder wälzten sich blutend am Boden. Bald schon loderten Flammen aus den Häusern und fraßen sich wie hungrige Wölfe durch die Strassen, dicht hinter den schwarzvermummten Gestalten her, die mit gezackten Säbeln und breiten Äxten über die hilflosen Menschen herfielen und sie niedermachten, wo immer ihnen einer vor die Klinge lief. Verzweifelt flehten die Dorfbewohner um Gnade, boten den Angreifern ihre wenigen Habseligkeiten an, versuchten, sich in ihren Häusern zu verbergen oder aus dem Dorf zu entkommen, doch sie ernteten nicht mehr als Hohn und Hass und ein grausames, blutiges Schicksal. Manch ein beherzter Vater suchte vergeblich, die seinen zu verteidigen, manche Mutter fiel an der Wiege ihres Kindes mit dem Dolch in der Hand. Nichts konnte sich den grausamen Schlächtern entgegenstellen, nichts ihrer blinden Mordlust Einhalt gebieten. Gleich tollwütigen Hunden metzelten sie mit schaumtriefenden Mäulern wahllos junge und Alte, Männer und Frauen nieder, plünderten und zerstörten, schändeten und verbrannten, wateten durch Ströme von Blut und gierten doch schon nach dem nächsten Opfer, dass sich hilflos schreiend unter ihren Schlägen winden würde. Kaum eine Stunde wüteten die Schlächter, dann ritten sie lachend und blutrünstige Lieder singend wieder fort, und die Nacht, die sie ausgespieen hatte, verschlang sie wie ein hungriger Wolf.
Das erste Licht des neuen Tages fiel auf ein rauchendes Grab. Wo einst eine blühende, kleine Siedlung gewesen war, lag jetzt nichts als ein paar niedergebrannte Ruinen, aus denen dicker, schwarzer Qualm aufstieg und so noch für eine Weile die Raben fernhielt, die sich aber schon in einiger Entfernung in den Bäumen niedergelassen hatten. Die Wölfe würden später kommen, aber sie hatten die Witterung bestimmt schon aufgenommen und es war nur eine Frage der Zeit, bis sich ihre grauen Schemen aus dem Wald schälen würden, um über die Toten herzufallen und das, was das Feuer sich nicht geholt hatte, voller Gier zu verschlingen. Grabesstille lag über dem hässlichen, schwarzen Fleck, der sich wie ein krankhaftes Geschwür aus der weißverschneiten Umgebung erhob. Nur hier und da knackte ein Scheit, in dem noch immer die Glut wütete. Kein Lüftchen regte sich und so stiegen die düsteren, schwarzgrauen Schwaden fast senkrecht in den Himmel auf, der vollkommen mit dicken, bleigrauen Wolken verhangen war, als wollte er sich dem furchtbaren Anblick entziehen. Mit heiserem Krächzen flog einer der Raben auf, zog einen weiten Bogen um die Ruinen des Dorfes und landete schließlich etwas abseits, in den Trümmern eines kleinen Schuppens, den die Angreifer in der letzten Nacht einfach niedergeritten hatten. Dort lag ein kleines, schwarzverrußtes Bündel, eng an eine der zersplitterten Holzwände gekauert, den Kopf in einer hilflosen Geste in den Armen verborgen. Neugierig hüpfte der Rabe auf seinen dürren Beinen darauf zu. Ein wenig unsicher pickte er gegen das Bündel, aber als er merkte, dass es sich nicht rührte, wurde er mutiger, flatterte auf, landete oben auf dem seltsamen Häuflein und begann erneut, danach zu picken. Bald schon hatte er den völlig verkohlten Stoff, der das Bündel umhüllte, aufgerissen und helle, von der großen Hitze gerötete Haut freigelegt. Freudig hieb er mit dem Schnabel danach. Ein großer Riss tat sich in der wunden Haut auf und frisches Blut quoll daraus hervor. Noch ein Hieb. Und noch einer. Bald schon würde er einen fetten Brocken im Schnabel halten. In Vorfreude auf das kommende Mal schlug der Rabe mit den Flügeln, als das Bündel plötzlich ein Wimmern hören lies. Irritiert schaute der Rabe nach unten. Dass war ungewohnt. Wieder wimmerte das Bündel und dann begann es sich zu regen. Erschrocken flatterte der Rabe auf und begann empört zu krächzen. Vorsichtig Abstand haltend lies er sich in ein paar Schritten Entfernung nieder und beobachtete die vermeintliche Beute. Diese begann sich langsam und stöhnend aufzurichten. Es war ein Mädchen, vielleicht zwölf oder dreizehn Winter alt, blass und rußverschmiert , das einstmals blonde Haar fast vollkommen verkohlt, gehüllt in schwarze, völlig verbrannte Stofffetzen, das sich verzweifelt bemühte, auf die Beine zu kommen und mit weit aufgerissenen, mit panischem Entsetzen gefüllten Augen zu dem Raben hinüber starrte. Aus der Wunde an ihrem Arm lief ein dünner, roter Blutfaden, aber dass schien sie kaum zu bemerken. Eine Weile stand sie einfach nur da, stumm und verloren, während Bäche von Tränen breite Spuren in ihrem Gesicht hinterließen und ein hilfloses Schluchzen ihren Körper schüttelte. Sie war allein. Verlassen. Ihr Leben war in einer Nacht zu Ende gegangen. Sie war die einzige, die den Schrecken überlebt hatte – doch dass verdammte sie nur zu einem langsamen, grausamen Kältetod in der frostigen Einsamkeit. Kraftlos sank das Mädchen zurück auf die Knie, ihre schmalen Hände furchten ziellos den schwarzen Boden, fuhren durch die verstreuten Splitter und Kohlebrocken, panisch nach einem Halt in einer Welt suchend, die gerade um sie herum zusammengestürzt war. Plötzlich verharrten die Finger auf ihrer Suche, schlossen sich krampfhaft um einen kleinen Gegenstand, der unter Ruß und Asche verborgen gelegen hatte. Langsam hob das Mädchen seine Hand, bis sie fast auf Augenhöhe war. Noch langsamer, als fürchte sie, das, was sie gefunden hatte, könnte ihr wieder entgleiten, öffnete sie ihre Finger. Ein warmes, goldenes Funkeln strahlte ihr entgegen, ein kleiner Schimmer, der sich in ihren Augen spiegelte. Rasch schloss das Mädchen die Hand wieder, presste sie an ihre Brust und schloss die Augen. Sie holte tief Luft und kam taumelnd auf die Füße. Langsam, ganz langsam setzte sie sich in Bewegung. Schritt für Schritt stolperte sie aus den schwarzen Ruinen, die noch gestern ihre Heimat gewesen waren, auf den fernen Waldrand zu, der wie ein breiter, grünbrauner Gürtel in einiger Entfernung zu sehen war. Noch immer lagen Angst und Verzweiflung in ihrem Blick, aber nun hatte sich ein entschlossener Zug um ihren Mund gelegt. Sie würde nicht aufgeben, nicht hier und nicht jetzt!
Verwirrt starrte der Rabe der dürren, schwankenden Gestalt nach, die sich langsam, aber zielstrebig von ihm fortbewegte. Das war ihm noch niemals passiert. Irgendwie weckte dieses Wesen seine Neugier. Träge breitete er die Flügel aus und schwang sich in die Luft, und während die anderen Raben nun damit begannen, sich trotz der Rauchschwaden in den Ruinen des Dorfes niederzulassen, verfolgte er das seltsame Wesen, das kraftlos, aber unbeirrt voranstapfte. Er würde bald eine eigene Beute haben, dessen war er sich sicher.

Mit einem aufreizenden Lächeln näherte sich die junge Frau dem breitschultrigen Matrosen, der soeben aus der schmierigen Hafenkneipe getorkelt kam. „Na, mein Großer, suchst du´n bisschen Spaß?“ Ihr Rücken bog sich noch ein wenig mehr durch, ihr geschnürtes Hemd öffnete sich wie zufällig noch ein wenig weiter und gewährte dem Betrunkenen einige äußerst einladende Einblicke. Stumpfsinnig stierte der Mann sie an. Eine dicke Dunstwolke von Schweiß und Alkohol umgab ihn wie eine unsichtbare Wand. Langsam drang der Anblick durch die Nebel in seinem Verstand und ein dreckiges Grinsen zog sich über sein wettergegerbtes Gesicht. „Imma doch!“ Schon langten seine sehnigen Arme nach ihr, bekamen ihre Schulter zu fassen und zerrten sie zu sich. Mit einer geschickten Drehung entzog sie sich ihm, fasste ihn am rechten Arm und drängte ihm ihre wohlgeformten Hüften entgegen. „Dann lass uns wo hingeh´n wo´s gemütlich ist, was meinst du, Großer?“ Mit sanfter Gewalt schob sie ihn vorwärts, einer kleinen Seitengasse zu. Immer wieder langte er mit seiner freien Linken zu ihr herüber, versuchte, seine kräftige Pranke in ihrem Ausschnitt zu versenken oder ihren Kopf an seinen zu zerren, um einen feuchten Kuss auf ihren vollen, vielleicht ein wenig zu roten Mund zu drücken. Den Ekel in ihrem Gesicht nahm er gar nicht war, Alkohol und Gier hatten seinen Verstand völlig umnachtet. Immer wieder entzog sie sich ihm, bis sie ihn schließlich vollends in die dunkle, kleine Gasse gelotst hatte, aus der ihnen ein fauliger, muffiger Gestank entgegenschlug. Müll und Unrat türmten sich unter geschlossenen Fensterläden, kaum ein Lichtstrahl drang zwischen den schiefen Dächern hindurch und außer ein paar Ratten war kein lebendes Wesen zu erkennen. „Wo gemman hin?“ Kaum konnte der Mann den Satz zwischen zwei herzhaften Rülpsern hervorwürgen. Sanft, aber entschlossen drängte sie ihn gegen eine der Hauswände und schob ihr Bein zwischen seine Schenkel. Laut und dreckig lachte er auf und griff mit beiden Händen nach ihrem Po, den er durch den dünne Rock hindurch walkte und knetete. „Bissne ganz wilde, wa? Stehs´auf Kerle wie mich, wa?“ Angewiedert zuckte sie vor seinem fauligen, nach Bier und billigem Fusel stinkenden Atem zurück. „Aber sicher, mein Großer, ich brauche echte Männer wie dich.“ Sie bemühte sich, den Ekel in ihrer Stimme zu unterdrücken. Selbst wenn sie besoffen waren konnten manche Männer sehr empfindlich darauf reagieren wenn sie merkten, was man wirklich von ihnen hielt. Sanft strich sie mit ihrem Knie an seinem Oberschenkel auf und ab, lies ihre linke Hand über seine breite Brust gleiten, während ihre Rechte behutsam an seinem Gürtel entlang tastete. Sie unterdrückte ein heiseres Keuchen, als der Matrose ihr mit aller Kraft in den Po kniff. Sein lautes Lachen dröhnte in ihren Ohren, doch sie lies sich nicht beirren. Endlich fühlte ihre Hand, was sie gesucht hatte, ein kleines Beutelchen, in dem es verräterisch klimperte. Während sie mit der einen Hand an dem kleinen, aber festen Knoten nestelte, lies sie ihre andere langsam nach unten gleiten. Jetzt kam es darauf an! Sie musste ihn ablenken, unbedingt. Als sie ihre Hand in seinem Schritt versenkte, grunzte er auf wie ein brünstiger Eber. „Dass´isses, Mädel, so magich dass!“ Eng, sehr eng zog er sie heran und wieder näherte sich sein Gesicht dem ihren, versuchten halbgeöffnete, rissige Lippen sich speichelfeucht auf ihre zu legen, während eine fette, schwammige Zunge gierig über große, gelbe Pferdezähne strich. In diesem Moment löste sich der Knoten. Mit einem schnellen Ruck entfernte sie sich von ihm und trat einen Schritt zurück. Verwirrt schaute der Mann sie an, ein Speichelfaden hing aus seinem Mund, die trüben Augen bemühten sich verzweifelt, sich von ihrem Ausschnitt zu lösen. Mit Verachtung im Blick musterte sie ihn, ein besoffenes Schwein, kaum mehr Herr seiner Sinne, zu betrunken, um zu begreifen, was vor sich ging. Fast tat er ihr leid. Fast. Mit einem koketten Augenaufschlag wandte sie sich um, schob den Beutel mit Münzen in die Tasche und wollte gerade gehen, als sich plötzlich zwei kräftige Pranken um sie legten und sie hart zurückrissen. „So hattn wia dassnich abgemacht!“ Verzweifelt versuchte sie, sich loszureißen, aber in den Händen des betrunkenen Mannes steckte erstaunlich viel Kraft. Rücksichtslos riss er sie an sich, dann stieß er sie zu Boden und war im Augenblick über ihr. Panisch versuchte sie, den Dolch in ihrem Stiefel zu erreichen, doch schon hatte er ihre Arme gepackt und drückte sie nun mit der linken Hand auf den Boden. „Has wohl gedacht, du könnsmich reinlgn, wa?“ Sein breites Gesicht spaltete sich zu einem höhnischen Grinsen. „Aba nich mit mia!“ Ein kurzer Ruck und ihr Hemd hing in Fetzen. Was er sah, lenkte den Mann, der bereits wild zu Keuchen begonnen hatte, für einen kurzen Moment ab. Zwischen den schmächtigen Brüsten der jungen Frau baumelte an einer dünnen Schnur ein einzelnes Goldstück, in der Mitte durchbohrt und mit ein paar seltsamen Einkerbungen darauf. Ein Hoffnungsschimmer keimte in der hilflos am Boden Liegenden auf, als sie seinen gierigen Blick sah. Mit der Kraft der Verzweiflung riss sie ihr Knie hoch, um es ihm in die Weichteile zu rammen, doch ihr Angriff ging wirkungslos ins Leere. „Dat klappt bei mia nich, Mädl!“ Laut und hässlich lachte er auf, dann packte er ihren Rock und riss ihn zur Seite. Brutal rammte er ihr sein Knie zwischen die Beine und zwang sie, die Schenkel zu öffnen. Mit einem leisen, ängstlichen Wimmern erstarb ihr letzter Wiederstand und sie ergab sich in das Unvermeidliche.
Hinterher lag sie zusammengekauert, die Beine fest an sich gepresst, schluchzend und zitternd im feuchten Straßengraben. Die wenigen Gestalten, die zu solch später Stunde noch unterwegs waren, hasteten achtlos an ihr vorüber. In dieser Gegend war es besser, sich um seine eigenen Sorgen zu kümmern. Wen interessierte schon eine kleine Hure, die dort im Rinnstein krepierte? Es waren Tage wie dieser, an denen sie jene Stunde verfluchte, in der sie die Menschen verlassen hatte, die sie aus dem Schnee aufgelesen hatten, damals, vor sechs Jahren, als sie halbverhungert und schon beinahe erfroren im Wald gelegen hatte, nichts bei sich als eine goldene Münze und ein paar verbrannte Stofffetzen, die lose um ihren schmächtigen Körper hingen. Die Menschen hatten sie aufgenommen, ihr etwas zu essen und Kleidung gegeben. Sicher, sie hatten sie geschlagen, oft und hart, und sie hatte Arbeiten müssen, bis ihre schmalen Schultern ihr den Dienst versagten, aber sie hatte ein Dach über dem Kopf gehabt, jeden Tag etwas zu essen bekommen und sie war nicht darauf angewiesen gewesen, sich an fremde Männer zu verkaufen, wenn sie sich nicht gerade mit kleineren Diebstählen über Wasser halten konnte. Damals war es ihr wie die Hölle vorgekommen, aber heute sehnte sie sich nicht selten in die Sicherheit jenes kleinen Gehöftes zurück, aus dem sie bei Nacht und Nebel geflohen war. Manchmal dachte sie daran, zurückzukehren, die Schläge und die Schelte über sich ergehen zu lassen und wenigstens ein bisschen Sicherheit zurückzugewinnen. Aber sie wusste, dass es kein zurück gab. Ängstlich tasteten ihre Finger über ihre verschrammte Brust. Die Münze war noch da! Er hatte sie ihr gelassen „füa den Spaß“, hatte er gesagt, hatte sein Geld genommen und sie liegen lassen. Haltsuchend schlossen sich ihre zitternden Hände um die kleine, goldene Scheibe, die seid Jahren der Stern war, nach dem sie ihr Leben ausrichtete. Mühsam kam sie auf die Beine. Sie musste hier weg, wenn sie nicht noch weit schlimmeren Menschen in die Hände fallen wollte. Leise weinend, mit der linken an die Hauswand gestützt, mit der rechten die Münze umklammert, humpelte sie in die trübe Dunkelheit der engen Gassen, bis nur noch ein feuchter, roter Fleck auf dem Boden an das Geschehen erinnerte.

Mit langsamen, vorsichtigen Schritten ging die junge Frau im trüben Licht eines nebligen Herbstnachmittags den steinigen Pfad entlang, der hinauf zu der kleinen Feste führte, die sich trutzig auf einer steilen Felsnadel über das Land erhob. Dies war der Ort, von dem sie seid Jahren geträumt hatte, den zu erreichen ihr einziges Ziel gewesen war. Der Gedanke, eines Tages hier zu sein, hatte sie aufgerichtet, wenn es ihr schlecht ging, hatte er ihr Kraft gegeben, wenn die Welt sich gegen sie gestellt hatte, hatte mehr als einmal ihr Leben gerettet. Nun war sie fast ein wenig enttäuscht. Sie hatte sich eine mächtige, prachtvolle Festung vorgestellt, doch diese kleine Burg war alles andere als prachtvoll, sie wirkte eher abweisend und ein wenig heruntergekommen. Dickes, dunkelgrünes Efeu und feucht-glitschiges Moos bedeckten die grauen Bruchsteinwände, die hier und da feine, aber dennoch deutlich sichtbare Risse aufwiesen. Das einzelne Banner, dass träge im kalten Wind flatterte, war an den Enden ausgefranst und von Wind und Wetter gebleicht, kaum mehr ein Schatten des Wappens war darauf zu erkennen. Das schwere, eisenverstärkte Eichentor wies Spuren mehrfacher Reparaturen auf und seine Beschläge waren an vielen Stellen nahezu völlig verrostet. Der Kopf des steinernen Wasserspeiers, der direkt über diesem Eingang thronte, war geborsten und lag, über und über mit Moos bewachsen, etwas abseits des Weges. Ein beklemmendes Gefühl bemächtigte sich ihrer, als sie nach dem schweren, eisernen Klopfer griff und ihn mehrmals schwer gegen das Tor fallen lies. Eine ganze Weile geschah nichts, dann aber wurde eine winzige Klappe zur Seite geschoben und zwei mürrische Augen starrten ihr entgegen. „Was wollt ihr? Hier gibt es nichts zu erbetteln!“ Die junge Frau schluckte trocken. Entschlossen nahm sie allen Mut zusammen und antwortete: „Ich will zum Ritter Rovin von Felsenrain. Sagt ihm, Anjissa ist hier. Und zeigt ihm dies hier.“ Mit einer schnellen Bewegung zog sie die Kette von ihrem Hals, an der noch immer die goldene Münze hing, die ihr der Ritter damals geschenkt hatte, und reichte sie durch die schmale Klappe hindurch. Das Augenpaar blitzte kurz auf, dann war ein mürrisches „Wartet“ zu hören und die Klappe schloss sich wieder. Ungeduldig trat Anjissa von einem Fuß auf den anderen. Ihr war kalt und ihre dünne Kleidung schützte sie nur ungenügend vor der klammen Feuchtigkeit, die sich in diesen Tagen wie ein Leichentuch über das Land gelegt hatte. Die Zeit schien sich ins Unendliche zu dehnen. Schon fürchtete sie, der Torwächter habe ihre Münze genommen und sie dann einfach stehen gelassen, als sie das metallische Schaben eines schweren Riegels hörte. Gleich darauf öffnete sich knarrend das schwere Tor und gab den Blick frei auf einen kleinen, verlassen wirkenden Burghof. Vor ihr stand ein alter, gebeugt gehender Mann, dessen kleine, braune Augen sie unter schütterem, grauen Haar misstrauisch anfunkelten. „Kommt rein, der Herr will euch sehen!“ Ungeduldig winkte er sie heran, dann verriegelte er dass Tor wieder und lies den Schlüssel zu der kleinen Klappe unter seiner grauen Leinenjacke verschwinden. „Kommt!“ Mit kleinen, ein wenig unsicheren Schritten humpelte der Alte vor ihr her, über den Burghof, auf dem allerlei altes Gerümpel langsam vor sich hin schimmelte und rostete, durch eine schwere, fast schwarz gewordene Eichentür und durch einen kalten, feuchten Gang, den eine einzige, rußende Fackel spärlich erleuchtete. Vor einer alten, schon ein wenig mitgenommen wirkenden Holztüre blieb der Alte noch einmal stehen. „Der Herr wartet auf euch. Ich rate euch, benehmt euch ja ordentlich, oder ich Prügel auch vom Hof, dass ihr Tagelang nicht mal mehr euren eigenen Namen kennt!“ Damit zog er die Türe auf und trat einen Schritt zur Seite. Langsam schritt Anjissa in den dahinterliegenden Raum, aus dem ihr angenehme Wärme entgegenströmte. Der Raum war recht groß und mit alten, zerschlissenen Wandbehängen ausgeschmückt, die allerlei Jagd- und Schlachtszenen zeigten. An seinem Kopfende befand sich ein großer, offener Kamin, aus dem ein kleines Feuer leise knisternd Behaglichkeit verbreitete. In einer Ecke des Raumes stand eine schwere, eiserne Rüstung, gestützt auf ein mächtiges, zweihändiges Schwert, dessen Klinge mit Dutzenden von Scharten und Schrammen übersäht war. Direkt vor dem Kamin stand ein kleiner, runder Tisch auf dem ein Kelch und ein tönerner Krug abgestellt waren. Direkt daneben stand ein gewaltiger, rotgepolsterter Ohrensessel, der über und über mit kostbaren Stickereien versehen war und immer noch prächtig wirkte, wenn er auch schon arg fadenscheinig geworden war. In dem Sessel saß ein alter, eisgrauer Mann, dem Mann deutlich ansehen konnte, das er früher einmal eine stattliche Erscheinung gewesen sein musste, groß, breitschultrig und mit edlen, ebenmäßigen Gesichtszügen. Doch nun hatte das Alter tiefe Spuren in das Gesicht gegraben und ein melancholischer, beinahe verbitterter Zug lag um die schmalen Lippen. Anjissa erkannte ihn sofort wieder – und doch war es ihr, als stehe sie einem vollkommen anderen Mann gegenüber. Dies war nicht der kraftvolle, heldenhafte Recke, den sie gesucht hatte, dies war nicht der strahlende Ritter auf seinem weißen Pferd, der damals in ihr Dorf eingezogen war an der Spitze seiner tapferen Schar. Dies war ein gebrochener alter Mann, den das Schicksal in die Knie gezwungen hatte. Tiefe, dumpfe Mutlosigkeit überkam sie. Sollte denn alle ihre Hoffnung vergebens sein? Sie hatte gelebt für diesen Tag, hatte gebetet und gefleht, dass sie den Ritter finden möge, um – ja, warum eigentlich? Nun, da sie ihm gegenüberstand, war sie selbst nicht mehr sicher, was sie seid Jahren an diesen Ort zog, welche Hoffnung sich mit diesem Ritter verband. Es war ein vages Gefühl gewesen, eine namenlose Gewissheit, die sie nun, da es soweit war, nicht in Worte zu fassen vermochte. „Ich grüße dich, mein Kind.“ Seine Stimme war rau und dunkel, nicht jung und kraftvoll, wie sie es in ihrer Erinnerung gewesen war. Einen Moment lang wusste sie kaum, was sie sagen sollte, aber dann fasste sie sich ein Herz und antwortete: „Die Götter mit euch, Herr. Verzeiht wenn ich euch störe, aber… ich dachte… ich hatte gehofft…“ Er lachte leise, ein heiserer, zynischer Laut, der ihr eiskalt in die Seele schnitt. „Gehofft, mein Kind? Es gibt keine Hoffung unter dem Antlitz des Fürstgottes.“ Verzweifelt versuchte sie es noch einmal. „Herr, vielleicht erinnert ihr euch nicht mehr an mich, aber ihr seid damals in unser Dorf gekommen und ihr gabt mir diese Münze und sagtet, ich solle in der Not nach euch senden, und nun bin ich hier und…“ „Brauchst du Geld?“ Der lauernde Unterton in seiner Stimme lies Anjissa zögern. Hielt er sie denn für eine gemeine Bettlerin? Sie warf einen flüchtigen Blick an sich herunter. Nun, sie konnte es ihm nicht einmal verübeln, so erbärmlich, wie sie aussah. Trotzdem, er musste sie doch erkennen. „Nein, Herr, ich will kein Geld. Ich… ihr sagtet, wenn ich eures Schwertarmes bedürfe, so sei er der meine. Ihr habt eure Initialen in die Münze geritzt und…“ „Münze? Was für eine Münze ist das, von der du immer sprichst, Kind?“ Anjissa fühlte, wie kalte Angst nach ihr Griff. Hatte der Alte Diener ihm denn die Münze nicht gegeben? „Eine goldene Münze, mit einem Loch in der Mitte, die an einer Kette hängt. Ich habe sie eurem Diener geg…“ Mit einer wütenden Handbewegung unterbrach der Ritter sie. „Ernholm ist nicht mein Diener! Er ist mein Freund, der einzige, der mir auf dieser Welt geblieben ist. Sprich nicht so abfällig von ihm! Nie wieder!“ Erschrocken machte Anjissa einen kleinen Schritt zurück. Für einen kurzen Moment hatte sie die alte Kraft in jenem zerbrechlichen Körper aufbegehren sehen. Aber die unbändige Wut in der Stimme des alten Ritters machte ihr Angst. Sollte sie wieder gehen? Aber jetzt war sie bis hierher gekommen. Sie durfte nicht aufgeben. Das war etwas, was sie auf der Strasse gelernt hatte. Wer aufgab, der hatte endgültig verloren. „Fragt euren … Freund doch nach der Münze. Ich habe sie ihm gegeben.“ Eine Weile fixierte der Ritter sie scharf unter zusammengezogenen Brauen. Sie fürchtete bereits, dass er sie hinauswerfen würde, als er nach einer kleinen Glocke griff, die er laut durch den Raum tönen lies. Kurz darauf öffnete sich die Tür und der alte Ernholm steckte seinen Kopf herein. „Was gibt es?“ Er bedachte Anjissa mit einem misstrauischen Blick humpelte zu dem Ritter hinüber. „Ernholm, gib mir die Münze.“ Hoffnung begann in Anjissa aufzukeimen. Vielleicht glaubte er ihr doch. Erst zögerte der angesprochene, dann aber griff er mit einem mürrischen Knurren in die Tasche und reichte dem alten Ritter die Kette mit der Münze. „Du kannst gehen, Ernholm.“ Der Ritter wartete, bis der Alte die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann hob er die Münze zwischen zwei Fingern gegen das Licht und betrachtete sie genauer. „Es ist lange her…“ murmelte er, und plötzlich glitt ein Leuchten der Erkenntnis über sein Gesicht. „Du… du bist das kleine Mädchen… mit der Puppe… die mich einen Prinzen nannte. Wie lange ist das her? Zwanzig Jahre?“ In Anjissas Welt ging die Sonne wieder auf. Er hatte sie erkannt! Sie wusste noch nicht, was das für sie bedeutete, aber es war ihr auf einmal, als sei sie nach langer und beschwerlicher Fahrt endlich nach Hause gekommen. „Komm näher, Kind, lass dich anschauen!“ Ein wenig zögerlich noch trat sie auf den alten Mann zu. Dieser fasste ihre Hand mit seinen knochigen Fingern und zog sie noch näher. „Schön bist du geworden in all den Jahren, Kind. Der dich einmal heimführt ist ein glücklicher Mann. Aber mager bist du. Ist du nicht genug? Vergib einem alten Mann, dem das Leben zuweilen übel mitgespielt hat, seine Schroffheit. Wenn man lange so einsam ist, wie ich es bin, wird man zuweilen ein wenig verbittert. Aber was rede ich und rede ich, erzähl doch, wie ist es dir in all den Jahren ergangen? Was führt dich zu mir und… ach wo bleiben meine Manieren? Vergib mir, vergib mir, ich hatte so lange keinen Besuch mehr. Heda, Ernholm, bring einen Stuhl und etwas zu trinken und dann koch uns was gutes. Heute haben wir einen Gast!“ Anjissa war tief gerührt von der überströmenden Freude des alten Mannes. Eifrigst war er darum bemüht, es ihr so angenehm wie nur möglich zu machen, dreimal schickte er seinen alten Freund, ihr etwas zu trinken, eine Decke und etwas Gebäck zu holen, dann endlich lehnte er sich zurück und hörte sich ihre Geschichte an. Anjissa erzählte, erst stockend, dann immer flüssiger und schließlich brach es aus ihr heraus, all die Not und das Elend der letzten Jahre seid jenem unglückseligen Tag, an dem ihr Dorf brannte. Sie erzählte von Schmutz und Hunger, von Angst und Leid, aber auch von den wenigen glücklichen Momenten, die ihr hartes Leben gehabt hatte. Der alte Ritter hörte ihr schweigend zu. Nur hin und wieder, wenn sie von einem gar zu harten Schicksalsschlag erzählte, seufzte er leise und traurig auf. Schließlich, als sie sich beinahe schon heiser geredet hatte und das Praiosmal längst hinter den Bergen im Westen versunken war, endete ihre Geschichte. Eine ganze Weile schwiegen sie beide und in dieser tiefen Stille fühlte Anjissa sich enger mit dem alten Ritter verbunden als seid Jahren mit irgendeinem anderen Menschen. Sie fühlte sich sicher in seiner Nähe, geborgen hinter jenen alten, verfallenen Mauern, die trotz allem, wenigstens für eine Weile, die Schatten ihres Lebens fernhielten. „Ein hartes Leben führst du, mein Kind. Gerne würde ich für dich hinausziehen, noch einmal mein Schwert erheben und dir Gerechtigkeit verschaffen, ungeachtet meines Alters. Doch… ich kann nicht.“ Mit einer knappen Bewegung zog er die Decke zur Seite, die während der ganzen Zeit über seinen Beinen gelegen hatte und gab den Blick auf einen gut eine Handbreit über dem Knie endenden Stumpf frei. „Eine Erinnerung an meinen letzten Kampf. An den Tag, an dem ich alle jene verlor, die mir etwas bedeuteten. An den Tag, an dem nur noch Ernholm und ich übrig blieben. Ich wollte, ich könnte für dich hinausziehen, aber ich kann es nicht.“ Anjissa konnte die Verbitterung in den Worten des Ritters beinahe körperlich fühlen. Er, der einst ein Streiter für eine gerechte Sache gewesen war, an die er geglaubt und für die er sein Leben gewagt hatte, war nun nichts weiter als ein alter Krüppel, angewiesen auf die Hilfe des letzten Freundes, der ihm geblieben war. Sachte legte sie ihm die Hand auf die Schulter. „Es ist gut, Herr…“ „Nenn mich nicht Herr, Kind. Ich bin kein Herr mehr, schon lange nicht mehr. Nenn mich Rovin, wie es meine Freunde taten.“ Sie nickte nur und strich ihm sanft mit der Hand über den Arm. Vorsichtig, fast zaghaft legte er seine Hand auf ihre und hielt sie fest. „Aber eins schwöre ich dir, Anjissa: Was auch immer geschieht, hier ist von nun an dein zu Hause. Die Tore meiner Burg stehen dir immer offen, ein Bett für dich ist immer bereit und bin ich auch kein großer Herr und auch kein Krieger mehr, aber, bei allen Göttern, hier, in diesen Mauern, bist du sicher vor allem Unbill, dass dir in der Welt begegnen mag.“ Feierlich sah der Ritter ihr in die Augen und es war Anjissa, als blicke sie noch einmal in das offene, ehrliche Gesicht, nach dem sie schon so lange gesucht hatte.
Am nächsten Morgen, nach einer ruhigen, angenehmen Nacht in einem weichen, großen Bett brach Anjissa in aller Frühe auf. Sie hasste Abschiede, vor allem jene, bei denen man sich von wirklich lieben Freunden trennte. Leise schlich sie durch die Gänge, leise schob sie den Riegel des großen Tores zurück und trat hinaus in die klare Morgenluft. Mit kräftigen, federnden Schritten lief sie den Weg hinunter, der ihr nun viel freundlicher und angenehmer erschien als gestern. Sie wusste, dass sie nicht hier bleiben konnte. Das Leben, das sie geführt hatte, hatte sie geformt, hatte die Rastlosigkeit wie eine wild wuchernde Rose in ihre Seele gepflanzt und lies sie nie lange an einem Ort verweilen. Sie brauchte ihre Freiheit, brauchte das Abenteuer und das Neue, Unbekannte, das dort draußen in der Welt auf sie wartete. Aber etwas war anders als in all den Jahren seid jener Feuernacht. Nun gab es einen Ort, an den sie zurückkehren konnte, an dem sie sich sicher fühlte und an dem man sie mit einem freundlichen Gruß empfangen würde. Nun, endlich, hatte sie dass gefunden, was sie all die Jahre wirklich gesucht hatte: Sie hatte ein zu Hause. Fröhlich und ausgelassen begann sie zu singen und der alte Rabe, der sie von einem knorrigen Baum in der Nähe beobachtete, breitete seine zerzausten Schwingen aus und flog davon. Hier gab es nichts mehr für ihn zu hohlen.

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five to seven