Re: Kurzgeschichte des Tages

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matis

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anubis737
[B]Blut im Schnee

Er war die Güte. Immer. Zu jeder Stunde. Er war ein liebender Vater einer kleinen Tochter. Sie war erst fünf Jahre alt und schien stets zerbrechlich. Deshalb sorgte sich ihr Vater sehr um sie. Er hieß Joseph.
Für Vater und Tochter war es nie leicht im Leben gewesen. Nachdem Josephs Frau verstorben war, zog er mit der Kleinen um. Er war bei der Erziehung nun auf sich allein gestellt. Und obwohl er ständig in Sorge um ihr Wohl war, konnte Joseph dennoch ein paar glückliche, entspannte Zeiten mit ihr erleben.
Seine Tochter war nun das Zentrum in seinem Leben. Ohne dieses hätte er nach dem Tod der Ehefrau wohl keinen Sinn mehr in seiner Existenz gesehen. Er wusste wie schwer seine Zukunft ohne seine kleine Tochter gewesen wäre. Und so kümmerte Joseph sich nicht nur um die Tochter, sondern auch um Menschen, die ihre Partner verloren hatten. In seinem Heimatstädtchen wurde ihm dafür große Anerkennung gezollt. Joseph war stets gerngesehener Gast und geschätzter Freund und Nachbar.
Vor allem die beiden alten Damen, die in den großen alten Haus neben ihm wohnten, sprachen nur positiv von ihm. Für sie war Joseph einer dieser wenigen Menschen, die trotz eines schweren Schicksalsschlags immer noch lächeln konnten und für andere da waren. Das machte ihn wirklich beliebt. Seine Tochter wurde für einen solchen Vater gelobt und zur Weihnachtszeit wurden die beiden reich mit Geschenken gesegnet.
Auch an diesem Weihnachten. Und da Joseph es nicht mit sich vereinbaren konnte, einfach Geschenke von Fremden entgegenzunehmen, lud er alle Menschen, die er kannte, an Heiligabend zu sich ein.
Es war ein heiteres Fest. Seine Tochter bekam von den beiden alten Damen einen weißen Mantel, dazu passende Handschuhe, einen Schal und eine Mütze. Seine Tochter bettelte darum, die neuen Kleidungsstücke anzuprobieren. Joseph erlaubte es natürlich.
Es war schon zehn Uhr, vielleicht schon später. Nachbarn boten Joseph mitgebrachte Kekse an, plauderten mit ihm, scherzten.
Es klingelte an der Haustür. Er öffnete. Draußen stand eine fremde Frau, die bitterlich fror. Sie sagte, sie hätte ein Problem mit ihrem Auto; es wäre einfach stehen geblieben. Joseph zögerte nicht, nahm sich schnell seine Jacke und rief einem Nachbar zu, er solle auf seine Tochter achten.
Die Frau und er mussten ziemlich lange gehen, bis sie zum Auto gelangten. Joseph konnte nicht genau erkennen, was das Problem war. Es schien lediglich etwas Ernstes damit zu sein. Und so lud er sie ein, bei ihm für eine Nacht zu bleiben. Die Frau bedankte sich zwar, wollte aber lieber in einem Hotel übernachten. Sie ließ sich auch nicht dazu überreden, sich dorthin begleiten zu lassen. So verabschiedete Joseph sich und war ein wenig enttäuscht, dass er nicht besser helfen konnte.
Zuhause angekommen wollte er sofort nach seiner Tochter sehen. Er schaute zuerst im Wohnzimmer nach. Danach in der Küche, in ihrem Schlafzimmer. Nichts. Er lief beängstigt zu dem Nachbarn, den er mit der Aufsicht betraut hatte. Der allerdings war bereits so betrunken, dass er seltsam lächelnd in einer Ecke saß und mit einen Feuerzeug herumspielte.
Nun bekam Joseph Panik. Er lief von Raum zu Raum und rief verzweifelt nach seiner Tochter. Die heitere Stimmung war sofort vergangen und einer der Gäste schlug vor, sofort ausgiebig nach der vermissten Tochter zu suchen. Alle wollten beim Suchen mithelfen. Sie gingen vom Haus aus in alle Richtungen, während die alten Damen die Polizei verständigten.
Während einige durch die Stadt liefen, verschlug es Joseph und ein paar Freunde in den nahegelegenen Wald. Vielmehr war es ein Wäldchen, denn er war wirklich nicht riesig. Joseph schrie sich die Seele aus dem Leib und plötzlich bemerkte er Fußspuren im Schnee. Fußspuren von kleinen Schuhen und welche von größeren. Er bekam eine furchtbare Ahnung. Er rannte so schnell er konnte an den Spuren vorbei. Seine Freunde folgten ihm.
Da sah er sie.
Die Kleidung zerrissen, der Mantel schon ganz rot. Das Blut färbte den Schnee. Ihre kleinen blauen Augen weit offen.
Er sank zu Boden. Wollte zu ihr kriechen. Die Freunde zogen ihn weg. Joseph begann fürchterlich zu weinen. Zwei der Freunde gingen mit ihm zurück zum Haus. Die übrigen riefen die Polizei.
Joseph starrte mit leerem Blick auf den Boden. Er bemerkte gar nicht wie eine der alten Damen ihm zärtlich über die Schulter fuhr. Er setze sich auf das Sofa im Wohnzimmer. Hörte ein paar tuschelnde Leute. Plötzlich bemerkte Joseph wie ein paar Männer den betrunkenen Mann raustrugen, der auf die Tochter hätte achten müssen. Joseph rannte zu ihnen, nahm im Lauf eine Bierflasche mit sich. Er hielt die Männer an, der Betrunkene lächelte ihm ins Gesicht. Joseph holte mit der Bierflasche in der Hand aus und schlug den Lächelnden damit mitten ins Gesicht. Der Betrunkene fiel zu Boden. Joseph schrie ihn an und wollte sich noch auf ihn stürzen, doch hielten die umherstehenden Männer den aufgebrachten Vater fest.

Der zuständige Gerichtsmediziner stellte fest, dass ein Mann sich an Josephs Tochter vergangen hatte. Dabei wollte er sie vermutlich davon abhalten sich zu wehren. Also setzte er sich auf ihren Brustkorb. Unter dem Gewicht des Mannes zerbrachen einige Rippen, die sich in die Lungenflügel der Tochter bohrten. Das ließ sie qualvoll ersticken. Nachdem sie gestorben war, schnitt der unbekannte Mann mit einem Messer an ihrem Bauch entlang, damit sie wie ein geschlachtetes Tier ausblutete.

Als Joseph davon erfuhr, schien auch sein Dasein beendet. Er ging ins Badezimmer, ließ das Waschbecken mit Wasser volllaufen, nahm die Klinge aus seinem Rasierer und schnitt sich tief in die Pulsadern. Er hörte wie es an der Tür klingelte. Dennoch ließ er sich nicht beirren und tauchte seine blutenden Hände in das gefüllte Waschbecken.
Vor der Tür standen die beiden alten Frauen mit einem selbstgebackenen Kuchen. Sie wunderten sich, dass Joseph nicht die Tür öffnete. Also gingen sie um das Haus herum zum Seiteneingang, der niemals verschlossen war. Sie hörten das Wasser noch laufen. Mit eiligen Schritten gelangten sie zu Joseph, der schon recht benommen war, und zogen ihn vom Waschbecken zurück. Ein Arzt wurde verständigt.

Es waren nun schon einige Monate vergangen und Joseph war nicht mehr der gütige, stets hilfsbereite Mensch, der er einmal gewesen war. Er verbrachte die Tage nun damit, alte Fotos zu betrachten und Ausreden zu finden, warum er nicht die Einladungen zum Essen und zu Ausflügen annahm, die ihm von einigen Menschen ausgesprochen wurden. Er saß lieber im Zimmer seiner Tochter oder besuchte ihr Grab auf dem Friedhof. Das Grab war reichlich geschmückt. Jeder wollte Abschied von ihr nehmen. Joseph aber nicht. Er konnte es einfach nicht übers Herz bringen. Er hatte sie so sehr geliebt.
Zwei Tage vor Heiligabend wollte Joseph ein Blumengesteck für seine Tochter zum Todestag kaufen. Hatte sie ausgerechnet an Heiligabend sterben müssen? Was war das doch für ein furchtbarer Tag zum Sterben. Und obendrein war sie doch noch so jung gewesen.
Es war schon recht spät. Die Geschäfte würden bald schließen. Joseph beeilte sich also ein wenig.
Gerade wollte er eine Straße überqueren. Da sah er von weitem einen Mann, der mit seinem Kind an einem Schaufenster stand. Joseph blieb stehen. Beobachtete. Versuchte zuzuhören. Der Mann schrie das Kind an. Wie konnte man nur so etwas tun? Das Kind versuchte den Vater nämlich davon zu überzeugen, etwas zu kaufen. Der Mann schien gestresst und nicht gewillt, etwas zu kaufen. Das Kind gab allerdings keine Ruhe und begann zu laut zu weinen. Der Mann konnte sich nicht mehr beherrschen und gab seinem Kind eine Ohrfeige. Seinem eigenen Kind.
Joseph konnte nicht mehr klar denken. Er war mehr als nur wütend. Er ging in schnellen Schritten über die Straße und ging zu einem Regal vor einem Geschäft. Er lockerte eine Metallstange aus dem Regalgerüst während das vor Schmerz schreiende Kind deutlich zu hören war. Jetzt lief er mit der Stange auf den Vater des Kindes zu. Als dieser sich umdrehte, schlug ihn Joseph mit der Stange auf den Kopf. Wieder und wieder. Dann drängte er den Mann an das Schaufensterglas und rammte ihm die Stange in den Magen. Der Mann fiel auf seine Knie, stützte sich mit den Händen auf den Boden. Joseph holte wieder aus. Schlug dreimal, viermal, fünfmal auf den Rücken des Mannes. Blut lief aus seinem Mund. Joseph trat ihn mit dem Fuß, um den furchtbaren Vater umzudrehen. Er schlug mit der Stange immer wieder auf den Oberkörper des Mannes ein, als dieser schon längere Zeit tot war.
Das Kind zerrte verzweifelt an Josephs Hose.

Dann begann es zu schneien.

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five to seven