Re: Kurzgeschichte des Tages

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matis

Registriert seit: 11.07.2002

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anubis737
[B]Nachts

Sie gingen alle fort. Verließen sie. Ließen sie im Stich. Nur sie war noch da. Musste fliehen aus der Heimat. Musste Söhne beerdigen. Musste Töchter beerdigen. Eltern, Ehemann. Blieb allein. Konnte nichts anderes tun. Voller Erinnerung, voller Vergangenheit, ohne Perspektiven, ohne sich.

Sie lebte fortan in einem kleinen Haus. Fern ab von der Stadt. Bei einem Wäldchen. Im Herbst fielen seine Blätter. Sie wehten durch ihr Fenster. Die alte Frau, früher wurde sie Dame genannt, kümmerte sich nicht darum. Warum auch? Sie träumte nur. Träumte ständig; oder kümmerte sich um ihren Kater. Er war schwarz, ganz schwarz.

Er saß oft bei der alten Frau und schaute mit ihr fern. Bis sie einschliefen. So ging es jeden Tag. Sie schauten fern und schliefen ein. Tranken Tee, schliefen ein.

Tag für Tag.

Wie schön sind doch jene Tage gewesen, als sie nicht wusste, was der Tag bringen würde. Doch nun, Stille.

Manchmal, jedoch nur manchmal, liefen Kinder durch das Wäldchen; lachten. Wie ihre Kinder. Wie sie selbst damals.

Jetzt hatte sie nur noch den Kater.

Es war ein Sonntag. Der Fernseher war angeschaltet. Es lief Gottesdienst. Es war evangelischer. Sie war katholisch. Sie achtete auch gar nicht darauf. Sie kochte Wasser. In einem alten Kessel. Den fertigen Tee stellte sie auf einen kleinen Tisch. Er war schon sehr alt. Dunkles Holz. Viele Verzierungen. Er stand neben ihrem Sessel; beim Fernseher.

Auf dem Sessel lag schon der Kater, schlief. Sie schaltete den Fernseher aus. Trank den Tee. Er war in einer weißen Tasse. Viele Verzierungen. Der Teebeutel war noch im Tee. Sie nahm den Beutel, zwirbelte ihn um einen alten Silberlöffel und ließ die letzten Tropfen hinaus.

Sie starrte den Tee an. Solange bis er ganz kalt war. Das tat sie jeden Sonntag. Sie liebte den Geruch, nicht den Geschmack.

Der Tee war noch von ihrem Mann. Er hatte ihn jeden Sonntag getrunken. Er hatte den Tee von einer Reise mitgebracht. Der Geruch des Tees war immer so lebendig, so voller Lebensfreude, Träumerei.

Nun war der Geruch schon fast verflogen. Nahm sie ihn überhaupt noch wahr? Vielleicht.

Die Erinnerung war einfach wichtiger.

So war es auch bei dem Silberlöffel. Er hatte ihrem Sohn gehört. Sein Name war eingraviert. Zittrig strich sie mit ihren alten runzeligen Fingern über die Gravur. Sie seufzte, schloss die Augen.

Sie sah ihn vor sich. Wie er in seinem Bett lag. Krank. Weinend.
Wieder und wieder musste sie es sehen. Sie öffnete die Augen.

Sie saß nur da. Einfach da. Bis es dunkel wurde. Sie schaltete den Fernseher ein. Es war spät; wurde immer später. Langsam verschwammen die Farben, die Formen. Die Bilder wurden klarer. Sah ihre Söhne, ihre Töchter, ihren Mann. War der Vergangenheit so nah. Sah all das Gute, all das Schlechte.

Wachte wieder auf. Strich sich die Tränen aus dem Gesicht.

Sie wollte wieder zurück. Sie konnte aber nicht.

Oft nahm sie sich ein Messer aus der Schublade. Legte es auf ihren kleinen Tisch. Sah es an. Überlegte. Nahm es in die Hand. Zögerte. Sie brachte es doch wieder zurück. So konnte sie nicht gehen. Und so brachte sie es jedesmal wieder zurück. Sie schlug gegen die Schublade, weinte.

Manchmal konnte sie gar nicht weinen so stark war der Schmerz. Konnte es jemandem noch schlechter gehen? Durch den Tod sollte man doch stärker werden. Warum konnte sie nicht stärker werden? Sie fühlte sich so schwach. So gern hätte sie ihre Vergangenheit.

Wie sollte sie mit allem ganz allein umgehen? Es ging einfach nicht. Sie wollte so gern schreien. So traurig, wütend war sie. Es ging einfach nicht. Sie gab sich auf, für diesen Tag, für diese Stunde.

Morgen war ein neuer Tag.

Tag für Tag.

Ihr Kater schlich sich zu ihr. Holte sie zurück. Sie setzte sich mit ihm in den Sessel, sah fern. Bis sie ganz fern war. Fern von dem Kater, dem Sessel, dem Tisch, dem Tee, dem Schmerz. Ganz nah an der Vergangenheit.

War so weit weg und doch so nah.

Am nächsten Tag wachte sie auf. Ein Teil von ihr war gestorben, nachts. Sie hatte nur noch den Kater. Was würde sie nur tun, wenn er auch noch gehen würde? Sie musste sich mehr um ihn kümmern. Sie konnte jedoch nicht. Sie weinte, wenn sie ihn fütterte, weinte, wenn sie ihn bloß sah.

Wieder saß sie vor dem Fernseher. Es war Sonntag. Der Tee stand noch neben ihr. Der Kater lag vor dem Sessel.

Langsam entfernte sie sich von ihrer Trauer. Doch der Schmerz blieb. Sie konnte kaum sehen, weil ihre Augen mit den Tränen kämpften.

Sie konnte nicht mehr. Sie war so kraftlos. Die Welt um sie herum verschwamm. Die Farben, die Formen. Die Bilder wurden klarer. Sah ihre Söhne, ihre Töchter, ihren Mann. War der Vergangenheit so nah, ganz nah. Sah alles Gute, alles Schlechte.

Ihr letzter Atemzug. Keine Kontrolle mehr. Verlor das Gleichgewicht. Fiel vom Sessel. Riss den Tisch mit zu Boden. Die Tasse zerbrach. Schade um die Verzierungen. Der Tee hatte seinen Geruch verloren.

Sie lag nur dort, auf dem Boden.

Der Kater schleckte ihre Hand. Was soll jetzt nur aus ihm werden?

Sie gingen alle fort.

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five to seven