Re: Kurzgeschichte des Tages

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matis

Registriert seit: 11.07.2002

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Jakob Kandinsky
Shot in the Head

..zunächst ein fröhliches ‚Hallo‘ an den geeneigten Leser. Wenngleich die Fröhlichkeit so aufgesetzt ist wie ein alter Hut, der eh nie recht hat passen wollen.

Ich hab SIE inzwischen (mehr oder weniger) erfolgreich aus meinem Wachbewusstsein verdrängt. Wohl aus Scham starb eine Hälfte von mir mit. Ich bin jetzt halbtot. Wieder mal. Selbst physisch. Gestern lief ich am ‚Esprit-Shop‘ vorbei, wo SIE arbeitet – schnell dran vorbei – wenngleich ich noch einen kurzen Blick riskierte. Und plötzlich ertapp ich mich, wie ich somnambul mitten durch den Laden schlendere. Wie bin ich hier nur wieder reingeraten? Schnell steuern meine Füße auf den Hintereingang zu (man sollte ja denken der Kopf steuert, aber es sind immer die Füße!). Dabei kein Blick nach links, kein Blick nach rechts.

Wieder draußen sieht es aus wie im Hinterhof irgendeines Fabrikgeländes. Altes Backsteingemäuer, Fenster- und Wellblechflächen. Und nur eine Fluchtrichtung, der ich einzig deshalb folge, um nicht wieder zurück zu müssen. Ich gelange an eine Treppe, die mich mitten in einen Speisesaal führt. An langen Bänken und langen Tischen sitzen eine Menge junger Menschen. Ich setze mich dazu. Unfreundliche Frauen in weißen Kitteln servieren das Essen. ‚Hier wird also die Esprit-Belegschaft gespeist‘ denke ich.

Es gibt Pommes. Die vier Jungs, die mir direkt gegenüber sitzen kommen mir bekannt vor. Sie scheinen mich aber nicht zu kennen. Ich beobachte das ganze, bis mir eine der Frauen in den weißen Kitteln ein Buch hinreicht. Wie selbstverständlich schneide ich es an, so wie man ein Kotelett anschneiden würde. Ich esse also dieses Buch. Mit Messer und Gabel. Ein trockenes Vergnügen.

Ob SIE auch hier ist? Mein Blick schweift wieder durch den Saal. Und plötzlich entdecke ich SIE. Fast direkt neben mir. Ich winke ihr zu. Sie winkt zurück, freundlich, schüttelt aber den Kopf (schüttelt aber den Kopf) und wendet sich wieder den Mädchen zu, die ihre Freundinnen zu sein scheinen. tja.. (ein unsagbares, leise hallendes ‚tja‘). Und die Frau im weißen Kittel serviert schon den nächsten Gang. Hamburger, ohne Brötchen, überdeutlich erkennbar aus maschineller Fertigung.

Ich mag nicht mehr essen. Ein letzter blick auf SIE, dann mach ich mich auf Richtung Ausgang. Dabei erblicke ich, mitten unter all den anderen, auf einer Bank am Fenster sitzend …Yvonne Catterfeld. ‚Hallo, du bist doch Yvonne Catterfeld‘ sage ich und strecke ihr meine Hand entgegen. Fast unmittelbar setzt sie ihr Catterfeld-Gesicht auf und erwidert den Gruß. Dankeschön. Als ich vom Fabrikgelände runter bin fällt die Tür hinter mir …in mein Schloss aus Luft. Einsame Strassen, Kreuzungen, Bahnübergänge.

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five to seven