Re: Kurzgeschichte des Tages

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matis

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Aus der Kategorie „Absurd“ (Kurzgeschichten):

Kristina Korus
[B]Eines Tages ging Dexter auf die Pirsch

Eines Tages ging Dexter auf die Pirsch. Er war noch nie dort gewesen und schaute sich nun, wo er dort war, mit großen Augen um, aus denen das Erstaunen geradezu herausfloß. Schon bald war die ganze Straße überflutet und die Feuerwehr mußte anrücken und einige Keller auspumpen. Zum Erstaunen der Besitzer waren auch sie bald trocken.

Dexter lief also auf der Pirsch entlang, als er ein entlaufenes Kaninchen sah, das mit einer Sanduhr zwischen den Ohren herumhoppelte, und zwar im Kreis. Dabei sang es laut „Tick – und – tahack und nochmal tihiiiiiiii…“

Es hatte eine glockenklare Stimme, und als es den Mund weit aufriß, konnte Dexter sogar den Namen der Gießerei erkennen. Aber beim „… nochmal tihiiiiii…“ kam es mit seiner Stimme so hoch, dass sämtliche Glasfasern rissen und plötzlich war es stockdunkel in der Stadt, obwohl eigentlich Tag war.

Doch die Bewohner der Stadt hatten das Sonnenlicht am Tag immer abgefangen und gespeichert, um es in der Nacht, wenn es richtig dunkel war, verstärkt durch Glasfaserbündel zu schicken, so dass es hell wurde. Dies war eine Tradition, die jetzt schon seit 5 Generationen bestand. Mit der Zeit hatten sich die Augen der Bewohner so an das grelle Glasfaserlicht gewöhnt, dass sie auf das normale Sonnenlicht gar nicht mehr reagierten. So wurde der eigentliche, durch den Lauf der Sonne definierte, Tag zur Nacht. Und deshalb war es für alle jetzt stockdunkel, auch für Dexter.

Er überlegte, ob er in Panik verfallen sollte. Dann aber dachte er, dass er heute schon genug umgekippt war und blieb stehen und wartete. Er pfiff sich ein Liedchen und bald war er von einer Schar Hörlustiger umgeben, die – sich vorsichtig vorantastend – seinem Pfeifen gefolgt waren. Jetzt, wo keiner etwas sehen konnte, war das Hören das, worauf sie sich verlassen mußten. Was lag da näher, als einem lustigen Liedchen zu folgen, das die Herzen erhellte?

Und plötzlich konnten sie wieder sehen. Das Licht der Herzen erleuchtete die Umgebung jedes Einzelnen.

Damit drohte die Geschichte ins Moralische abzudriften – und das ist nicht gut. Jeglicher Versuch, einer Geschichte eine Moral zu geben, ist unmoralisch und nicht zu verantworten.

Dexter jedenfalls starb am nächsten Tag beim Versuch seinem Fernseher ein Hertz zu geben, damit er wieder flimmerte. Er hatte aber vergessen den Netzstecker zu ziehen und die Spinne war äußerst wütend gewesen, als sie ihr Netz in einem Zustand größter Verwirrung vorfand.

Sie packte ihre Koffer und verschwand.

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five to seven