Re: Industrial

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sonic-juice
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Musik wird schmerzend oft empfunden
Elektrosmog: Die Lärmpioniere von „Throbbing Gristle“ heizen Berlin ein

Chris Carter sagt: „Der Krach des einen ist die Musik des anderen.“ Der musikalische Kopf der Elektrolärmlegende „Throbbing Gristle“ (TG) muß es wissen. Das britische Quartett zählt zu den fortschrittlichsten und einflußreichsten Bands der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, wahrscheinlich sind sie nach „Kraftwerk“ sogar die wichtigste der Dekade. Die Gruppe begründete die Industrial-Bewegung, der Name des ganzen Genres leitet sich sogar vom bandeigenen Label Industrial Records ab, und in der Zeit von 1976 bis 1981 schufen TG Unerhörtes: Songs und Soundcollagen, die bis heute nicht nur Vorreiter- und Vorbildfunktion für Industrial-Bands wie „Einstürzende Neubauten“ besitzen, sondern auch für große Teile der elektronischen Tanzmusik von Bedeutung sind. Dementsprechend pompös wurde der erste Liveauftritt der Gruppe in Deutschland seit fünfundzwanzig Jahren inszeniert. Die Feierlichkeiten dauerten mehrere Tage und gipfelten in der Berliner Volksbühne im einundvierzigsten Konzert der Band.

Zwei Tage zuvor fand im ausverkauften Arsenal im Filmhaus am Potsdamer Platz in Anwesenheit des Quartetts die Premiere des TG-Konzertfilms „Live at the Astoria, London“ statt. Der neunzigminütige, 2004 gedrehte Film dokumentiert den ersten Auftritt der Gruppe nach dreiundzwanzigjähriger Pause und begeisterte das anwesende Kinopublikum ebenso wie die damaligen Konzertbesucher. Die Band gab in London mehrere neue Stücke zum besten, spielte aber hauptsächlich Klassiker wie „Persuasion“, „What a Day“ oder „Discipline“. Es sind ausdauernde Sachen, die auf kunstvolle Weise eingängige Stampf- und Schunkelrhythmen mit vielschichtigen Lärmwänden und geschrieenen Parolen oder langgezogenem Flehen verbinden. Der Sound ist undurchdringlich, hypnotisch, viel zu laut, das alte TG-Motto „Unterhaltung durch Schmerz“ paßt immer noch.

Bemerkenswerterweise verzichtete die Band bei ihrem Comeback auf jeden Multimediaschnickschnack. Die Bühne war hell erleuchtet, die beiden Krachmacher Chris Carter und Peter „Sleazy“ Christopherson saßen fast regungslos hinter ihren Powerbooks, die ehemalige Porno-Darstellerin Cosey Fanni Tutti glitt mit einem Bottleneck über die dreisaitige Gitarre auf ihren Knien. Dafür, daß ein TG-Konzert nicht nur ein bizarrer Ohren-, sondern auch ein Augenschmaus ist, blieb weiterhin allein Sänger Genesis Breyer-P-Orridge zuständig. Nachdem er sich vor einigen Jahren die Lippen aufspritzen und Brustimplantate einpflanzen ließ und sich in die Karikatur eines Metrosexuellen verwandelte, hat er eine Stufe der Provokation erreicht, die weniger schockiert als befremdet.

Am Silvesterabend, kurz nach neun, war es dann auch in Berlin soweit: Der Vorhang der Volksbühne öffnete sich, die Fans strömten nach vorn und drängten sich um die kleine Bühne mit den vier Heroen. Die Freude war groß, der Lärm gewaltig. Genesis Breyer-P-Orridge trug eine rote Bluse, einen silbernen Metallplättchenrock und Pumps, Cosey Fanni Tutti stand in schwarzen Reitstiefeln mehrfach auf und blies in die Trompete, Carter und Christopherson konzentrierten sich auf ihre Computermonitore – doch im Vergleich mit dem Londoner Gig fehlte es dem Auftritt an Intensität.

Breyer-P-Orridge, dem in London beim ersten Lied noch eine Träne die Wange herabrollte, beschränkte sich nun auf einige wenige Gesten; sein Klagen und Drohen, sein Leiden und Psalmodieren wirkten eine Spur zu routiniert. Auch die Musikauswahl war nicht so gelungen: TG spielte hauptsächlich neues Material ihres im März erscheinenden Albums „Part Two“, durch den Verzicht auf die frühen Industrial-Gassenhauer fehlte dem Konzert der Spannungsbogen. Hinzu kamen kleinere technische Probleme. Bezeichnenderweise fand der Höhepunkt des Konzerts erst nach der Zugabe „Hamburger Lady“ statt, als das Publikum minutenlang trommelnd und rufend die TG-Hymne „Discipline“ forderte – natürlich vergeblich.

Am Abend zuvor war im dritten Stock des Kunst-Werke Vereins die TG-Ausstellung „Industrial Annual Report“ eröffnet worden. Die noch bis zum 29. Januar geöffnete Schau zeigt rund einhundert Exponate zum Werdegang der Gruppe: Fotos, Poster, Fanzines, Copy-Art, Anstecker, Aufkleber, Kassetten-, Platten- und CD-Cover. Der Ausstellungsraum wirkt wie ein gutsortierter Fan-Shop. Doch vom Hintergrund dieser Band, deren Wurzeln zurück zur britischen Performancegruppe „Coum Transmissions“ reichen, die mit Livekopulationen und durch die Verwendung von benutzten Tampons und allerlei Körperausscheidungen Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre viel Aufmerksamkeit auf sich lenkte, erfährt man leider nichts. Entschädigt wird der Besucher dafür im Nebenraum mit den auf Großbildleinwand projizierten TG-Konzertfilmen „Heathen Earth“ aus dem Jahr 1980 und dem großartigen „Live at the Astoria, London“. MARC DEGENS

Text: F.A.Z., 04.01.2006, Nr. 3 / Seite 32

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